Ein Häkchen, zwei Häkchen – blau – offline. Es ist ein modernes Phänomen, welches uns das große „P“ in die Augen malt, wenn plötzlich belanglose drei Punkte auf dem Bildschirm unserer Smartphones tanzen oder das bloße Wort „schreibt“ das Gefühl auslöst, die Welt aus ihren Angeln heben zu können.
„Is it weird that I’ve been thinking about you?“
Es ist eine moderne Angst, die offensichtlich auch den beiden Musiker Chris Farren und Jeff Rosenstock der Band Antarctigo Vespucci nicht unbekannt ist. „I just want to be around you every single day. Is it weird that I’ve been thinking about you? I know the normal thing to do would be to talk to you, but I won’t. I read through all the emails that you wrote to me and again the ones that I sent back to you.“ Stets von der hiesigen Welt verwirrt, bekommt der Titel, der grazil unter dem düsteren Albumcover voll warmer Isloation geschrieben steht, den fast altertümlich traditionellen Begriff „E-Mail“ einverleibt – Liebe in den Zeiten von E-Mails.
Wie macht man weiter, wenn sich das, was zur einzigen Konstanten wurde, in Staub auflöst?
Oft gibt es nicht viele Dinge, die unsere Welten zusammenhalten. Bei Chris Farren war es über acht Jahre seine Band Fake Problems und bei Jeff Rosenstock die Long Island Punk Band Bomb the Music Industry!. Beide beendeten somit ungefähr zeitgleich eine ganz persönliche Ära. Wie macht man also weiter, wenn das, was zur einzigen Konstanten wurde, sich von heute auf morgen in Staub auflöst?
In Farrens Fall treibt man sich eine Weile in New York City rum, lässt sich vom Strudel der Stadt mitziehen und trifft 2014 auf einer Party seinen alten „Kumpel“ Jeff Rosenstock, der irgendwie genauso verloren durch die Welt streift, wie man selbst. Man schnappt sich wenige Tage später seine Gitarre und besucht Rosenstock in seiner Wohnung. Während man die Treppen erklimmt, stellt man fest, dass man sich eigentlich überhaupt nicht kennt. Am oberen Ende der Treppe steht Jeff, der zur selben Zeit ganz ähnliche Gedanken hat. Was ist, wenn die Zusammenarbeit eine Katastrophe wird?
„Zusammen ergibt Antarctigo Vespucci einfach Sinn.“
Unterschiedlicher geht es kaum: Farren baut düstere, zähflüssige Melodien, bei denen permanent das Gefühl entsteht, als würden seine Hooks den Hörer Auge um Auge in jungfräulicher Ehrlichkeit manipulativ um den Finger wickeln. Bei Rosenstock hingegen gibt es Punk-Sinfonien, die sich mit Ängsten und der Leere des Lebens auseinandersetzen und bedingungslos gut funktionieren. Zusammen ergibt Antarctigo Vespucci einfach Sinn. Da trifft das nostalgische Handwerk des Arrangierens großartiger Rockmusik zwischen Indie und Punk auf zwei Menschen, die zu oft mit den Themen der Welt hadern und sich wahrscheinlich genau deswegen brauchen. Ach und während sich die beiden in ihren jeweiligen Einzigartigkeit so gut ergänzen, spielen sie auch nahezu alle Instrumente selbst ein. Nur am Schlagzeug sitzt ein weiterer Bekannter: Wieder einmal kreuzt Benny Horowitz (The Gaslight Anthem, Mercy Union) den Weg.
Sind echte menschliche Emotionen und körperliche Verbindungen überhaupt wichtig, wenn man nicht darüber twittern kann?
Während das bereits benannte „Voicemail“ wie ein viel zu langer Sprachnachrichtmonolog daher kommt und die Endlichkeit der persönlichen Verzweiflung und Unsicherheit proklamiert, hüpft einem „Kimmy“ als manische Seifenblase auf LSD um die Ohren. Der Song zeigt die schmale Brücke zwischen Euphorie, Angepasstheit und Selbstzweifel – aber wenn die Realität ins Spiel kommt, wird ganz sicher alles anders und viel, viel besser! Oder?
Ähnlich verzweifelt spickt „White Noise“ ein. Sind echte menschliche Emotionen und körperliche Verbindungen überhaupt wichtig, wenn man nicht darüber twittern kann, dies nicht in einer nach 24h verpuffenden Story mit 15 Sekunden Musik untermalen oder sich dem direkten Kontakt entziehen kann? Reicht es nicht digital geliebt zu werden? Oder ist das alles nur ein weißes Rauschen, das am Ende an den Äther verloren geht? Gefangen in der Zwickmühle der Liebe im digitalen Zeitalter bleibt also zu hinterfragen, ob all das, was im menschlichen Körper um den Zustand der Liebe geschieht, uns nicht schon seit Anbeginn der Menschheit zu nervösen Trotteln benannter Zeiten macht. So zeigt nämlich biespielsweise „Breathless On DVD“ gleichermaßen, dass so unfassbar starke Gefühle, wie Liebe und Verzweiflung, zwar vergänglich sind, aber die Menschen, die diese Gefühle in uns auslösen, oft für ein sehr lange Zeit ein Teil unseres Lebens bleiben.
Antarctigo Vespucci erzeugen reines, ehrliches Glück – musikalisch, kognitiv und emotional
„I wanted to see you, to see if I still wanted to see you,“ zitiert Farren Jean-Paul Belmondo und verbindet schimmernde Synth-Pads mit einem Refrain im klassischen New Wave-Pop-Gewand mit dem französische Nouvelle Vagu. So geht es von Song zu Song und am Ende muss man neidlos eingestehen, dass Antarctigo Vespucci in all ihrer handwerklichen Großartigkeit und wahrscheinlich bester chemischer Symbiose reines, ehrliches Glück erzeugen, welches in all seinem poppigem Outcome selbst das Punkkid überzeugen wird – musikalisch, kognitiv und emotional.
Würde man demnach von einem Konzeptalbum ausgehen, müsste man sich am Ende bewusst machen, dass es, wenn überhaupt ein paradoxes Happy End gibt. Paradox, weil „E-Mail“ die Ebene aus der digitalen Welt auf die Straße überträgt, aber gleichermaßen aufzeigt, dass es in der Welt ohne Filter und Verstecken noch subtiler zugeht, als auf dem digitalen Basar der Menschlichkeit.