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Daniels musikalischer Jahresrückblick 2022

Mein erster Jahresrückblick für das CYB-Mag, auch wenn ich schon Mitte 2021 hier einsteigen durfte. Atemberauend viel Aktivität meinerseits gab es auch nicht: Zu viele Verpflichtungen, zu wenig Zeit – wem das fremd ist, der lebt sein Leben wohl einigermaßen richtig.
Nichtsdestotrotz möchte ich das erste einigermaßen-gefühlt-post-Corona-Jahr Revue passieren lassen. Neben so vielen Showbesuchen (aber auch: Absagen) wie seit 2019 nicht mehr, ist es besonders die schiere Masse an umwerfend guten Alben, die dieses Musikjahr zur Abwechslung auf positive Weise besonders machten. Ein Versuch der Rekapitulation.

Die Normalität kehrt in die Kulturbranche zurück, Menschen gehen auf ausverkaufte Konzerte, die Veranstalter können alle überleben, alles wird gut.

Meine Lieblingsalben 2022

Spite House – Spite House

Der große Überraschungssieger: Die Kanadier sind mir erst vor wenigen Tagen in die Wahrnehmung gespült worden und sehen es seitdem überhaupt nicht ein, irgendwo anders als direkt an der Spitze einsortiert zu werden. Widerstand zwecklos. Aber warum sollte man sich gegen so druckvollen, lauten und hymnischen Emopunk auch wehren? Title Fight haben ganz zu Beginn mal ganz ähnlich geklungen. Spite House haben genügend Energie, um mindestens drei Blackouts zu überstehen.

Praise – All In A Dream

Praise kommen aus der Gegend um Washington, D.C., setzen sich aus Mitgliedern verschiedener legendärer Hardcorebands zusammen und haben mit „All In A Dream“ eines der besten Proto-Emo-Alben des Jahres 1985 veröffentlicht. Reingefallen, alles Quatsch! Naja, nicht alles: Hinter Praise stecken Menschen von Champion, Turnstile und Mindset. Und sie stammen aus Baltimore. Und sie haben eines der besten Proto-Emo-Alben des Jahres 2022 veröffentlicht, das eben so klingt wie direkt aus dem Revolution Summer teleportiert. Positive Vibes ohne Ende, eingängige Melodien für drei Alben und ein Cover von Hüsker Dü, das sich so nahtlos einfügt, dass es beinahe beängstigend ist.

Berthold City – When Words Are Not Enough

Knalliger Youth-Crew-Hardcore mit mehr Xen im Geiste als in der 18er-Abteilung einer (nicht mehr existenten) Videothek. Seit Have Heart im Jahr 2006 hat mich Hardcore nicht mehr so abgeholt, wie diese 24-Minuten-Erruption von Andrew Kline (Strife) und seinen Mitstreitern. Kleines Manko: Wie so ziemlich alles aus dieser Liste ist das Alte-Männer-Musik von alten Männern. Zumindest im Punk- und Hardcore-Kontext. It takes one to know one.

New Junk City – Beg A Promise

Endorphin Ahoi! Aufgedrehter Punkrock mit leichtem Americana-Einschlag, der sich vor lauter Melodieseligkeit beinahe selbst überschlägt. Macht süchtig.

Conjurer – Páthos

Achtung! Das Akustikintro bereitet nicht im Geringsten auf die folgende Post-Metal-Abrissbirne vor. Conjurer vereinen auch Album Nummer zwei das fieseste aus Sludge, Doom und bitterbösem Post-Hardcore, reichen dir aber nach mehreren Tritten in die Magengegend freundlich die Hand und lassen sogar sowas wie Melodie zu. Trotzdem: „Pháthos“ bleibt ein hartes Stück Arbeit und erfordert Nehmerqualitäten.

Soft Kill – Canary Yellow

Zu vermuten, Soft Kill hätten in ihrem Leben den ein oder anderen Song von The Cure gehört, erfordert nicht allzu viel Phantasie. Anders als auf den früheren Werken wird der sonst so unterkühlte Post-Punk auf „Canary Yellow“ aber um etwas sonnigen Indie und mehr Mut zum Hit angereichert. Das Ergebnis ist ein Haufen tanzbarer Ohrwürmer.

Rest Easy – Hope You’re Okay

Noch so eine Zeitreise: „Die 2000er haben angerufen und wollen ihren Posi-Core zurück, den sie selbst aus den 90ern geklaut haben“. Ungelenker Witz, wahre Aussage: Rest Easy rekrutieren sich aus dem wunderschönen Vancouver und tragen die DNA von Shook Ones und Daggermouth in sich, die beide schon vor über 15 Jahren ihren Sound an Kid Dynamite und Lifetime kopiert haben. Interessiert doch keinen, solange dabei das vielleicht beste Album zwischen Pop-Punk und Hardcore der letzten Jahre rausspringt.

Birds In Row – Gris Klein

Sieben Plätze lang nur aufgewärmtes von vorgestern, bis dann endlich Birds In Row um die Ecke kommen und zeigen, wie ernst sie das „post“ von Post-Hardore nehmen: Innovativ, weitergedacht, zwingend, eindrucksvoll, emotional. Alles Attribute, die man dem dritten Album der Franzosen anhängen kann und dann trotzdem nicht schlauer ist. Ein Gesamtkunstwerk, poetisch, intensiv und voller unerwarteter Wendungen.

Hot Water Music – Feel The Void

Da haben wir es wieder: Alte Männer. Aber auch: Alte Helden. Wichtigste Band für viele, die sich hier rumtreiben. Die letzten Jahre waren nicht einfach für Fans: Trennung, Comeback, durchwachsene Alben, Ungewissheit. Chris Wollard, integralster Bestandteil, kann und will nicht mehr auftreten, bleibt aber fester Teil der Band. Sein Liveersatz, ein weiter Chris (Cresswell, The Flatliners), wird mit „Feel The Void“ offiziell zum fünften Mitglied ernannt. Zudem kehrt mit Brian McTernan der Macher von „Caution“, „A Flight And A Crash“ und „The New What Next“ auf den Produzentenstuhl zurück. Das Ergebnis: Das beste Hot Water Music-Album seit 20 Jahren.

Between Bodies – Electric Sleep

Das Debütalbum, auf das Emopunk-Deutschland seit der herausragenden EP vor drei Jahren sehnsüchtigst gewartet hat. Enttäuscht wurde niemand, das multinationale Quartett (Köln/Toronto/Paderborn) liefert gnadenlos ab. Das Duo aus Songwriting und Lyrik steht dabei einigermaßen konkurrenzlos auf weiter Flur. Wenn es ein Must-Listen-Album in dieser Liste gibt, heißt es „Electric Sleep“.

Meine Lieblings-EPs 2022

Be Well – Hello Sun

Wenige Bands aus der weiten Melodic-Hardcore-Welt haben in den letzten zwei Jahren mehr Aufmerksamkeit bekommen. Das Dämonenbewältigungsprojekt von Brian McTernan (da ist er wieder) zeigt sich musikalisch noch etwas ausgereifter und zwingender als auf dem Debütalbum. Düster, intensiv, hoffnungsvoll.

Luctone – Turning Points

Ein Münsteraner Multiinstrumentalist zaubert einen instrumentalen Mix aus Emo, Postrock und Shoegaze (unterlegt mit etwas Elektronik) aufs Parkett. Alles in kompletter Eigenregie von Florian Kochinke (White Crane) eingespielt. In einer gerechten Welt würde jetzt niemand Stirnrunzeln, sondern jeder wissend Nicken.

The Carolyn

Das Trio aus Atlante spielt lauten, melodischen Punkrock, der deutlich Richtung Chicago spielt. Dort lebt ein anderes lautes, melodisches Punkrock-Trio, das im direkten Vergleich etwas mehr Rotz bietet, aber auch schon seit längerem nicht mehr wirklich überzeugen konnte. The Carolyn deuten an, dass sie mehr sein wollen als ein Substitut.

Meine Lieblingsshows 2022

Ja, Plural: 2022 fühlte sich mit etwas Augenzukneifen ein bisschen so an, wie dieses „Früher“, von dem immer alle reden. Zumindest konnte man wieder Konzerte ohne Einschränkungen besuchen, sogar mehrere, wenn man wollte. Leider wollen oder können viele das allerdings nicht, wobei sich durch die vielen Touren, die in den letzten zwei Jahren immer wieder verschoben und nun endlich nachgeholt wurden ein ziemlicher Overkill aufgebaut hat. Die paradoxe Folge: Etliche Shows und Touren wurden mangels verkaufter Ticktes abgesagt. Die Veranstaltungsszene malt nach zweijährigem fast-Stillstand, Inflation und ausbleibender Ticketkäufe ein beängstigend pessimistisches Bild. Wir können alle nur hoffen, dass sich dieser Effekt wieder etwas abmildert und keine weiteren Einschränkungen mehr als letzter Sargnagel dazukommen.
ABER: Einiges fand ja doch statt. Und auch, wenn 2022 mein persönlicher Rekord an Showbesuchen war, die ich oft sehr kurzfristig absagen musste, habe ich es auf ein paar besondere Shows geschafft.

Muff Potter, Messer – Schlachthof Bremen

Das letzte Konzert ihrer „Bei Aller Liebe“-Tour führt die Institution, die Muff Potter nun mal sind, in den Bremer Schlachthof. Das neue, der Tour ihren Namen gebende Album wird dabei in voller Länge aufgeführt – unterbrochen von einigen der größten Hits früherer Tage. Natürlich klingen Muff Potter 2022 nicht mehr wie 2000, zumindest nicht im Albumkontext, live fügt sich dieser Mix aber erstaunlich gut zusammen. Selbst die vielen Spoken-Word-Passagen verlieren nichts von ihrer Eindringlichkeit. Was den Abend aber so besonders macht, ist der schiere Bock, der hier in der Luft liegt. Ob jetzt die Band das Publikum angesteckt hat oder umgekehrt, ist nicht mehr zu klären und am Ende natürlich ganz egal. Und auch, wenn der Fokus auf das neue Album verhindert, dass die Show zur reinen Nostalgiebefriedigung mutiert, singen doch alle bei den alten Hits noch ein kleines bisschen lauter als sowieso schon. Am Ende sind sich alle sicher: Wenn irgendwas gut ist, dann das hier.

Panopticon, Grift – Hafenklang Hamburg

Jeder Besuch im Hafenklang ist ein guter Besuch. Allein, weil dieser übersympathische Club sich mit der Vehemenz eines Gallischen Dorfes gegen die Gentrifizierung des Elbufers zwischen Fischmarkt und Landungsbrücken stemmt. Drinnen vergisst man schnell das geleckte Umfeld, besonders an diesem Abend: Die Bühne ist mit allerlei Grabschmuck und Räucherstäbchen dekoriert, zusätzlich blasen die Schweden von Grift alles mit Nebel zu, sodass die Atmosphäre für ihren melodischen, nicht übermäßig kalten Black Metal stimmt. Der Sound ist hervorragend und glasklar, die Songs stimmungsvoll und das Publikum offenbar in Laune.
Danach betreten sieben Menschen versteckt unter unglaublich viel Haar die fast zu kleine Bühne: Panopticon mag das Ein-Mann-Projekt von Austin Lunn sein, die Liveumsetzung erfordert jedoch eine ordentliche Truppenstärke. Der Folk-/Bluegrass-/Black Metal-Mix wird auf der Bühne adäquat umgesetzt, auch wenn anfangs Soundprobleme das Erkennen der überlangen Songs erschweren. Es ist aber auch ein visuelles Schauspiel: Das Ineinandergreifen von zwei bis drei Gitarren, Bass, E-Violine, Drums und ganz selten auch mal Kontrabass läuft so flüssig und reibungslos, dass man schon ins Staunen gerät. Ziemlich großes Kino.

Change, Cohezion, Insecure – The Bullet Farm Vancouver

Vancouver? Vancouver. Was sind die großen Touristenattraktionen in Westkanadas Metropole? Halb-konspirativ veranstaltete Straight-Edge-Hardcore-Shows, natürlich! Zusammen mit CYB-Kollegen Patrick, der schon seit Jahren in Vancouver lebt (Grüße gehen raus!) finden wir nach etwas Sucherei in einer versteckten Gasse den noch versteckteren Club – eine offizielle Adresse gibt es nicht. Drinnen gibt es dann zwei Mal groovenden Hardcore mit ordentlich Karateaction im Pit – offenbar sind die Handvoll Anwesenden aber alle gut befreundet und entsprechend freundschaftlich wird zugeschlagen.
Der Hauptact des Abends, Change, ein Haufen Veteranen der Hardcoreszene im Pacific Northwest (u.a. Champion, Betrayed, The First Step, Union Of Faith) hat mit „Closer Still“ vor zwei Jahren ein knackiges und erstaunlich frisch klingendes Youth-Crew-Werk veröffentlicht, das heute Abend mit ordentlich Energie dargeboten wird. Fronter Aram Arslanian, mit dem wir vor der Show noch einen netten Schwatz hielten, liefert zwischen den Songs die passenden Ansagen – der Mann meint es ernst und will zum Nachdenken anregen. Veganismus, drogenfreies Leben, aber auch der Umgang mit Mental Health und Verlust sind wiederkehrende Themen des doch kurzen Sets. Sympathischer Auftritt, makelloser Auftritt, gelungener Abend.

Worauf ich mich 2023am meisten freue

Die Normalität kehrt in die Kulturbranche zurück, Menschen gehen auf ausverkaufte Konzerte, die Veranstalter können alle überleben, alles wird gut.

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