Nachdem sich „Ich vs. Wir“ vor anderthalb Jahren zu einem Exempel der scharfsinnig beobachtenden zeitgenössischen Musiklandschaft entwickelte, dem großen Ganzen ordentlich Salz in die Wunde streute und einen hoffnungsvollen Aufbruch nach vorn proklamierte, packt „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)“ den Einzelnen an den Hörnern und zeigt, dass noch längst nicht alles gesagt ist. Kettcar nutzten auch 2019 ihre Stimme, um das auf den Punkt zu bringen, was vielen noch schwer über die Lippen geht, aber essentiell für diese gespaltene Gesellschaft steht: „Das Private ist natürlich immer auch politisch“
„‚Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)‘ ist eine viel zu schnell endende EP, die formvollendet ist und Kettcar als wichtigste deutsche Band fundiert.“
„Burn, Palo Alto burn“ als Schlachtruf der eigene Verantwortung an die Individualität
Letztlich geht es um die gleichen Themen wie 2017. Ohne großes Geschwafel entpuppt sich der Opener „Palo Alto“ als eröffnendes Meisterwerk in Text und Ton. Die erste Vorabsingle beschäftigt sich mit denen, die keinen Platz mehr im System haben. Mit denen, die wir durch unsere immer schneller werdenden Verhaltensmuster aus dem Raster stoßen. So nehmen ein Kulturjournalist, ein Pornosternchen, ein Plattenhändler und ein Bankangestellter (alle alte Bekannte) ihre Plätze auf der Liste der aussterbenden Berufsarten ein und man hinterfragt, ob es mehr Sinn machen würde nach Kalifornien ins Mekka der IT-Industrie zu fahren und den ganzen Laden in die Luft zu sprengen oder die Waffe nach innen, auf sich selbst zu richten und die blutige Stille zu genießen, während die Erde aufhört sich zu drehen. „Burn, Palo Alto burn“ wird somit zum Schlachtruf der eigenen Verantwortung, diese menschlichen Unikate und wunderschönen Momente im Sinne der Individualität zu wahren.
Thematisch knüpft für mich „Natürlich Für Alle“ an. Auch wenn der Song sich im Tracklisting erst kurz vor Ende zeigt, hängt er unmittelbar mit dem Opener zusammen. Denn wenn man ganz ehrlich ist, formt das eigene Konsumverhalten letztendlich die Notwendigkeiten am Markt und zeigt am Ende des Tages, wer gewinnt und wer verliert. So hinterfagt die Band um Frontmann Marcus Wiebusch, ob es wirklich ein bewusstes Kaufen gibt, oder wir mit dieser Deklarierung nur ein schlechtes, kapitalismuskritisches Gewissen beruhigen wollen?
Ist das Novum der blanken Ehrlichkeit überhaupt noch so spannend, oder mittlerweile auch schon wieder irgendwie ausgelutscht?
Zwischen gewohnten und experimentell eingängigen Sounds beweisen Kettcar, dass „Ich vs Wir“ keine zufällige Eintagsfliege war. Man dupliziert nicht das, was es bereits gibt, sondern erweitert ein Werk, welches vermutlich noch in weiter Ferne nicht abgeschlossen sein wird. Es ist ein Leichtes hier zu orakeln, dass man über „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)“ auch am Ende des noch recht frischen Jahres sprechen wird – auch, wenn man natürlich hinterfragen kann, ob das Novum der blanken Ehrlichkeit überhaupt noch so spannend, oder mittlerweile auch schon wieder irgendwie ausgelutscht ist.
„Scheine in den Graben“ winkt dem Establishment und all seiner Scheinheiligkeit verzweifelt grinsend zu, während „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ leise im Hintergrund vor sich hin summt. Der Song stellt dem mehr als notwendigen Bedarf einen modernen Ablasshandel gegenüber, der einen ernsthaften moralischen Konflikt aufwirft. Die fortschreitende humanistische Katastrophe, die offensichtlich keine andere Möglichkeit mehr hat, als sich medial über dem Mittelmeer zu entladen, scheint zu einer Doppelmoral der Überschussgesellschaft zu führen. So paradox sich die prominente Zusammenstellung für den ersten Moment auch darstellen mag, verdeutlichen David von FJØRT, Schorsch Kamerun, Jen von Großstadtgeflüster, Bela B, Jörkk von Love A, Sookee, Felix von Kraftklub, Marie von Neonschwarz, Gisbert zu Knyphausen und Safi, dass jeder Einzelne eine ganz besondere und individuelle Stimme hat und festgefahrene Strukturen langfristig nur durch gebündelte Kompetenzen verändert werden können.
…und dann verändert sich die Perspektive
In der Mitte der EP verändert sich dann merklich die Perspektive und der Blick richtet sich von außen nach innen. „Notiz an mich selbst“ hinterfragt ganz systemisch ein sich -gefühlt- windendes Ich. Es ist einer dieser Songs, der selbst dem reflektiertesten Menschenkind mindestens 25 Anhaltspunkte zum Nachdenken auf die Schultern packt. Jedem, der beide Füße noch irgendwie einigermaßen auf dem Boden hat, wird ein nicht so schnell verdaubarer Kloß im Hals stecken bleiben. Spätestens nach der Zeile „Der Wolf im Schafspelz hat den gleichen Schneider“, lässt sich diskutieren, wie schnell wir die Realität um uns vergessen, während wir versuchen für die Dinge, die wir bekämpfenswert finden, zu kämpfen, die wir moralisch verteidigungswürdig finden, hinter Scheuklappen verteidigen oder während wir die Möglichkeiten ignorieren, die wir ganz egoistisch nicht wichtig genug finden.
„Hinter zauberschönen Melodien offenbaren sich bitterernste Themen.“
Wiebusch ist ein Meister der Gänsehaut-Songs: Nicht, weil sie in allen Facetten wunderschön sind, sondern weil sich hinter zauberschönen Melodien bitterernste Themen offenbaren, die uns alle irgendwie schon -mehr oder weniger direkt – betroffen haben und emotional hammerhart einschlagen. Kaum verwunderlich also, dass „Weit draußen“ somit das Ende dieser Platte markiert. Schrieb ich gerade schon über einen nicht so leicht verdaubaren Kloß, lässt mich dieser Song sämtliche Befindlichkeiten einer unangenehmen Gänsehaut durchleben. Mir ist eiskalt, schlecht, ein bisschen schwindelig und letztlich läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken, der der Begriff Schauder wesentlich besser steht. Wenn mich diese Band im Sommer live so packen wird, wie seit geraumer Zeit „digital“, werde ich einen doppelten Schnaps brauchen!
Kettcar fundieren ihre Stellung als wichtigste deutsche Band
Taucht so „kurz“ nach einer starken Albumveröffentlichung die Bekanntgabe einer neuen EP im medialen Orbit auf, formieren sich auch rasch kritische Stimmen und hinterfragen, ob nun flugs noch ganz kapitalistisch ausgeschlachtet wird, was nicht mehr auf die Full-length gequetscht werden konnte. Kettcar lassen diese Stimmen in kürzester Zeit verstummen und zeigen sehr deutlich, dass die Fähigkeit der Hamburger so wertungsfrei und gleichermaßen kritisch zu hinterfragen, dass es weniger, als ein Augenzwinkern benötigt, die Wahrheit frei zu legen noch lang nicht überholt oder gar langweilig ist. Mit „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)“ bereichern uns Kettcar mit einer viel zu schnell endenden EP, die formvollendet ist, die Hamburger Musiker als wichtigste deutsche Band unserer Zeit fundiert und darauf hoffen lässt, dass es ganz bald wieder heißt „Kettcar kündigen heute mit der neuen Single „“ ihr kommendes Album „“ an.“