Nach gut fünf Jahren melden sich Kettcar mit ihrem neuen Album „Ich vs. Wir“ zurück und liefern damit ein Statement voll von politischem und gesellschaftlichem Zündstoff. Ob es bis dato ein vergleichbar ehrliches, intelligentes und trotzdem angenehm hörbares Musikwerk gibt, wird anzuzweifeln bleiben.
Keine Diskussion beim Storytelling
Dass Kettcar musikalisch nicht überall punkten, darf ungefragt Fakt sein. Beim Storytelling gibt es allerdings keine Diskussion. Jede Zeile der elf Songs bringt mehr Input, als ein einziger Abschnitt Lehrbuch. Kettcar machen den Mund auf. Unverfälscht und klarblickend zeigen sie direkt im Opener „Ankunftshalle“ wie der Hase auf „Ich vs. Wir“ läuft. „Es war einer dieser Zyankalitage, an denen wir uns mal wieder umbringen wollten, weil die Menschen überhaupt keinen Sinn ergaben“, leitet die Geschichte ein, bei der die Protagonisten regelmäßig die Ankunftshalle des Flughafens besuchen müssen, um ehrliche Emotionen in der Gesellschaft wahrnehmen zu können. Der Mensch kann sich ohne Ende profilieren oder andere hassen und abwerten, doch wird er die Liebe immer und immer benötigen, um sich als Mensch fühlen zu können.
Als erste Auskopplung veröffentlichte die Kombo um Frontstimme Marcus Wiebusch mit „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ wahrscheinlich DAS Lied zur zeitlosen Flüchtlingsthematik: Eine musikgewordene Metapher, ein alle Synapsen umschließendes Meisterwerk, welches dem Hörenden die Gänsehaut aus allen Richtungen über den Körper laufen lässt und wieder und wieder aufzeigt, dass es für Menschlichkeit keine Verhandlungsebene gibt und geben darf.
…und dann geht es wieder um die Selbstreflektion
Darauf folgend wurde wenig später „Wagenburg“ veröffentlicht und stellt das offensichtliche Zwiegespräch zwischen der aktuellen gesellschaftlichen Ich- und Wir-Lüge dar. Es geht um die breite „Wir sind das Volk“-schreiende Masse, die letztendlich hinter jedem „Wir“ ein „Ich“ versteckt und ihrem bodenlosen Egoismus jeden Funke Verstand opfert, während sie sich ausschließlich über eine breite Gehirnwäsche zur blindmarschierenden Wagenburg formieren kann.
Weiter geht es in „Trostbrücke Süd“ mit der Kritik am Allgemeinen und dem blinden Konsum von Dingen, die wir eigentlich weder wollen noch brauchen. Auch „Mannschaftsaufstellung“ widmet sich den gefährlich verschleierten, rechtspopulistischen Inhalten der aktuellen Zeit. Wiebusch nutzt hierzu einmal mehr das Sinnbild Fußball und leitet ein: „Liebling ich bin gegen Deutschland und zwar nicht nur im Fußball“. Und dann geht es wieder um die Selbstreflektion. „Burn-out vom Yoga“ wird zu einem der schönsten Bilder des Songs „Die Straßen unseres Viertels“: Zwischen Befreiungsschlägen und Selbstgeißelung und in der ewigen Lüge besonders individuell und fortschrittlich zu sein, findet jeder sein Stücken im Song.
Kettcar arbeiten sich mit ihren bekannt beschwingten Melodien durchs Establishment
So arbeiten sich Kettcar mit ihren bekannt beschwingten Melodien durchs Establishment. Es wäre gelogen zu sagen, dass „Ich vs. Wir“ nicht anklagt und gleichermaßen ist ebendas dieselbe Lüge. Hier wird aufgezeigt, bewiesen, festgenagelt – da steckt richtig viel Beobachtung, Wahrnehmung und Reflektion hinter.
Die Hamburger lassen keinen Zentimeter Platz zum Zweifeln und agieren gleichermaßen analytisch und systemisch. Sie drängen Fragen auf und legen diese an keinem Punkt fest. Es wird Raum gegeben die eigene Person ganz individuell zu hinterfragen. Alles immer mit dem Bewusstsein und einem großen Maß Sicherheit: es gibt noch mehr da draußen, die ebenso keine Lust mehr haben. Die Veränderung wollen und nicht verblendet sind.