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Silverstein – A Beautiful Place To Drown

Die kanadische Post-Hardcore-Band Silverstein ist seit Gründung im Jahr 2000 nicht mehr aus der Musikszene wegzudenken. Starteten sie zunächst im damals hoch im Kurs stehenden Emo und Screamo inklusive aller dazugehörigen Klischees, entwickelte sich die Band stetig weiter, sprengte als einige der wenigen Bands der damaligen Zeit die Ketten ihres musikalischen Käfigs und blieb sich aber auch in gewisser Weise treu und entwickelte ihren eigenen unverwechselbaren Sound. Nun steht mit „A Beautiful Place To Drown“ das neueste Werk der Kanadier in den Regalen. Darauf präsentiert sich die Band sehr modern und poppig mit allem, was ein echtes Pop-Album ausmacht: Ein Haufen Features mit Gastauftritten aus der verwandten und auch artfremden Szene, Ohrwurm-Melodien und ein durchweg durchproduzierter Sound. Ist das Ausverkauf oder Weiterentwicklung?

„Einerseits eine allgegenwärtige Produktion, Anleihen und Effekte aus der modernen Popmusik, Hooklines und repetitive Ohrwürmer am Laufband und die im Popbusiness schon inflationär verwendeten Features anderer Musiker. Andererseits alles, was Silverstein zu Silverstein macht.“

Von Emokids zu Post-Hardcore-Größen

Silverstein erkämpften sich schnell einen Platz in der Szene. „My Heroine“ oder „Your Sword Versus My Dagger“ gehören längst zu Klassikern des Genres. Aber Silverstein verstanden es, nicht auf der Stelle stehen zu bleiben. Sie entwickelten ihren eigenen Sound, der aber stets auf gutem Songwriting und eingängigen Melodien mit dem szenetypischen Wechsel von Geschrei und Gesang fusste. Das bescherte ihnen schnell gute Slots auf den angesagten Festivals und es gelang ihnen der Spagat zwischen Mainstream und Szeneverbundenheit, ohne wie andere musikalische Weggefährten in Klischees oder Bedeutungslosigkeit (oder Beidem) zu versinken.

2013 kam das in jeglicher Hinsicht überragende Album „This Is How The Wind Shifts“ heraus, auf dem sich die Jungs aus Ontario facettenreicher denn je präsentierten und dennoch ein unglaublich stimmiges Werk hervorbrachten. Die beiden folgenden Alben „I Am Alive In Everything I Touch“ und „Dead Reflections“ waren weniger aufsehenerregend, aber vor allem auf dem letzteren Album schufen Silverstein einen deutlich reiferen Sound. So hat sich auch auf den Liveshows der Band das Bild vor und auf der Bühne stark verändert. Während die jungen Emokids der 2000er mittlerweile gestandene Musiker geworden sind, die ihre Haare aus dem Gesicht gekämmt haben, um mit beiden Augen sehen zu können und beizeiten auch mit breitem Schnörres und Hawaiihemd aufwarten können, tummeln sich vor der Bühne bunt gemischt Fans aus allen Zeiten der Band.

Kehrtwende, Ausverkauf oder Next Step?

„A Beautiful Place To Drown“ stellt nun zum 20-jährigen Jubiläum später den nächsten Output dar und nach den eher weniger massentauglichen letzten beiden Alben, kommt das neue Werk eindeutig poppiger daher. Schon der vorab veröffentlichte Song „Infinite“ zeigt die Band im Video in einem von Neonröhren beleuchteten Glaskasten. Das hat man so schon gefühlt in vielen anderen Videos gesehen. Mit sphärischen Klängen wird der Song eingeleitet und startet mit stakkatohaftem Gesang. Hinzu kommt eins von ungewöhnlich vielen Features. Unterstützt wird Shane Told am Mikrofon von Aaron Gillespie, dem Schlagzeuger und Sänger der Band Underoath. Und spätestens im Refrain wird die neue musikalische Ausrichtung deutlich, wenn sich der Gesang in Höhen schraubt, die live eine Grenzerfahrung für Tolds Stimmbänder darstellen könnten, während man die Hookline bereits beim zweiten Durchlauf mitsingen kann.

Und dennoch drückt und schiebt der Song, so dass man nach dem ersten Entsetzen auch irgendwie feststellen kann, dass das Ganze seinen Charme hat. Das ist ein Gefühl, das sich dann auch durch das gesamte Album zieht.

Ein bisschen wie eh und je…

Aber fangen wir von vorne an: Das Album startet recht krachend mit „Bad Habits“. Die Zeile „I’m good with bad habits“ könnte dabei ein bisschen wie eine Entschuldigung für das wirken, was in den nächsten knapp vierzig Minuten passiert. Nur mit Bass und Gesang beginnend, macht der Song keine Gefangenen, legt schnell los und könnte so oder so ähnlich auch auf jedem der vorigen Alben auftauchen. Unterstützt wird die Band dabei von Aaron Marshall von Interval.

Auch beim zweiten Song „Burn It Down“ kommt ein Gastmusiker zum Einsatz. Die prägnante Stimme von Caleb Shomo (Beartooth) verleiht dem Song noch einmal eine ganz besondere Note und die Stimmen vereinen sich insbesondere im letzten Refrain noch einmal sehr beeindruckend. Auch hier fällt auf, wie eingängig der Song ist und wie stark Produktion und ein überschaubares Songwriting sich auf das Songbild auswirken.

Dies zeigt sich noch deutlicher bei den beiden folgenden Songs. „Where Are You Tonight“ verwendet die titelgebende Zeile derart häufig, dass einem in Kombination mit den inflationär verwendeten Stimmeffekten à la Daft Punk schwindelig werden könnte und dennoch wandert der Finger auch beim zwanzigsten Durchlauf nicht auf den Skip-Button. Ihm folgt das bereits erwähnte „Infinite“, dass bei jedem Hören stärker wird. Und bei allem Pomp und Effekthascherei ist zu jeder Zeit herauszuhören, dass hier Silverstein am Werk sind. Aber das ist erst der Anfang dessen, was dem langjährigen Stammpublikum zugemutet wird.

…und auch ganz anders

Denn gegen Mitte des Albums entfernen sich Silverstein weiter von ihren Wurzeln und spätestens beim sechsten Song „All On Me“ könnte man in der ersten Minute in jeglicher Hinsicht auch eine andere Band vor sich haben. Synthesizer, entfremdete, schleppende Drums und eine dröge Melodie, in der Tolds Stimme durch den Effektfleischwolf gedreht kaum noch zu erkennen ist. Einzig im Refrain kommen dann wieder Gitarren und organisch klingende Drums zum Einsatz und die Stimme wird von den Effekten befreit. Gerade fragt man sich, ob die Zeile „Let me know if it’s over“ Bezug auf die Qualität des Songs nimmt, da läuft der Chorus in ein kurzes Saxophon-Intermezzo aus. Ein kurzer Moment der Verwirrung… und dann packt es einen und schiebt den Song auf eine ganz andere Ebene.

Damit scheint dann auch letztlich der Knoten geplatzt zu sein. Denn wenn das folgende „Madness“ auch wieder deutlich an Fahrt aufnimmt und im Refrain unverkennbar den Stempel „Silverstein“ trägt, hat man sich nun mit Princess Nokia eine genrefremde Gastrapperin dazugeholt, die sich dann aber erstaunlich gut in den Song einfügt und im Wechsel mit dem wütendem Geschrei Tolds sehr harmoniert. Bei „Say Yes“ fehlt der Schreigesang völlig und Silverstein verlassen textlich und stimmungsmäßig ihr melancholisches Fahrwasser und legen eine Poppunk-Nummer hin, die auch auf jedem Blink-Album Platz finden könnte. In den nächsten Songs geben sie sich dann wieder sehr typisch, aber liefern insbesondere mit „September“ einen sehr schönen und in sich stimmigen Uptempo-Song ab.

Die letzte Nummer des Albums wartet mit den langjährigen Weggefährten Simple Plan als Feature auf und die Band verabschiedet sich mit relativ entspannten Klängen von dem Hörer.

Darf eine Postcore-Band so viel Pop?

Was hat man nun davon zu halten? Eine allgegenwärtige Produktion, Anleihen und Effekte aus der modernen Popmusik, Hooklines und repetitive Ohrwürmer am Laufband und die im Popbusiness schon inflationär verwendeten Features anderer Musiker. Andererseits alles was Silverstein zu Silverstein macht: Melancholie, Texte über persönliche und gesellschaftliche Krisen, gerne in maritime Metaphern getaucht und Shane Tolds unverwechselbare Stimme. Das alles klingt sehr nach klarem Kalkül und weniger nach der künstlerischen Selbstverwirklichung der letzten Alben. Ein großes Werbeplakat mit „Ausverkauf“ hängt förmlich in der Luft. Wenn man aber hinter dieses Schild guckt und „A Beatuiful Place To Drown“ eine echte Chance gibt, funktionieren die Songs jeder für sich und das Album als Gesamtes erstaunlich gut.

Mit jedem Hören fühlen sich die produktionstechnischen Kniffe und Experimente stimmiger an und es bleiben einfach großartige Songs mit einer breiten stylistischen Palette. „A Beautiful Place To Drown“ holt mich nicht so sehr ab wie „This Is How The Wind Shifts“, die Songs sind losgelöster voneinander, aber sie machen Spaß. Sie bieten gleichzeitig Tiefe und Geradlinigkeit und wieder einmal gelingt es den Jungs aus Ontario, ein Album hervorzubringen, mit dem sie sowohl den alten Fans gerecht werden, aber auch neue hinzugewinnen können.

Video: Silverstein – Infinite

Hier erhältlich
Silverstein – A Beautiful Place To Drown
Release: 06. März 2020
Label: UNFD
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