Album Nummer sieben steht für The Amity Affliction auf dem Programm. Pünktlich im zwei Jahres-Zyklus, der sich über die letzten Alben eingependelt hat erscheint nun kommenden Freitag das neue Werk „Everyone Loves You Once You Leave Them“, erstmals über das neue Label Pure Noise Records. Dabei geht es nach dem eher seichten „Misery“ (Albumreview) von 2018 zurück zu den härteren Wurzeln der Band, wie es sie noch auf „Youngbloods“ (2011) zu hören gab. Produziert wurde wieder von Matt Squire, der auch bei „Misery“ mit dabei war.
„„Everyone Loves You Once You Leave Them“ ist vieles. Es ist ein klares Statement und ein Weckruf. Es spricht Tabu-Themen wie psychische Krankheiten und Suizidgedanken an, verarbeitet Verlust und Trauer und macht deutlich, dass jeder, ungeachtet von Bekanntheit, Erfolg und sozialem Status, Probleme haben kann.“
Die Paradoxie sozialer Medien
Der Titel allein gibt einen guten Ausblick und klingt, wie üblich für die Australier, recht düster und vor allem sehr bitter. Doch fasst diese Aussage das ewige hin und her zwischen Künstlern und vor allem intoleranten Menschen auf sozialen Medien zusammen, wie Frontmann Joel Birch erklärt. Psychische Krankheiten bei Künstlern werden oft mit Missmut aufgenommen, es müsse den Menschen doch gut gehen, bei all dem Erfolg – Zeilen, die jeder so oder so ähnlich schon mal gelesen hat. Es ist also nicht in Ordnung krank zu sein, wenn man berühmt ist – stirbt man aber, so war man eine „große Inspiration“ ein Ausnahmekünstler und ein Verlust für die Welt. Auf diese Paradoxie spielt der Titel an und erscheint auf einmal doch traurig realistisch.
Stimmungsvoller Anfang
Nachdem man mehr oder minder erfolgreich den schweren Titel verarbeitet hat, geht es auf „Everyone Loves You Once You Leave Them“ stimmungsvoll mit dem Song „Coffin“ los. Der stellt mit seinen knapp zwei Minuten mehr ein Intro dar, das im Verlauf ordentlich an Druck und Tempo zulegt und bereits einen kleinen Ausblick gibt auf das, was einen auf diesem Album erwarten wird. Den folgenden Titel, „All My Friends Are Dead“, gab es bereits als erste Vorab-Veröffentlichung zu hören. Die hat vielleicht den einen oder anderen stutzen lassen, ist sie doch überraschend heavy für The Amity Affliction, verglichen mit den anderen Releases der letzten Jahre. Gerade nach „Misery“ setzt der Titel ein deutliches Zeichen und weist die Richtung für den „neuen“ Sound.
Verletzlichkeit und schwere Gitarren
Auch das folgende „Soak Me In Bleach“ gab es bereits zu hören und erinnert doch stark an die Songs auf „Let The Ocean Take Me“. Das Zusammenspiel der beiden Sänger ist gewohnt stark und die grungigen, härteren Gitarren-Sounds erweitern die Klangwelt gekonnt um Facetten, von denen man gar nicht gewusst hat, dass sie fehlen könnten. Auch elektronische Elemente werden hier eingebaut – subtiler als beim Vorgänger-Album und sehr bewusst gesetzt. „All I Do Is Sink“ entschleunigt dann wieder etwas und klingt stellenweise fast etwas poppig, durchbrochen von Joels Screams und schweren Gitarrenriffs.
Mit „Baltimore Rain“ findet auch ein Stadtname wieder seinen Weg in die Tracklist. Der schlägt klanglich eine Brücke zu „Misery“ mit einem langsameren, aber nicht weniger druckvollen Sound und einer angenehm kratzigen Stimme von Clean-Sänger und Bassist Ahren Stringer. Eine verletzliche Seite zeigen The Amity Affliction und insbesondere Schreiber Joel Birch mit „Aloneliness“. Der Song klingt wieder überraschend poppig und doch irgendwie verloren. Passend, geht es doch sehr offen um das Leben (des Songwriters) mit einer bipolaren Störung. Auch singen beide Sänger klar, was eine angenehme Abwechslung bietet. Joel sagt dazu:
„Es geht ganz offen darum, bipolar zu sein. Es ist der ständige Kampf, herauszufinden, wer ich jetzt gerade bin. Es ist der morbide und negative Teil meiner Existenz. Zum Glück für mich habe ich die Musik. Ich habe diese tägliche Befreiung auf Tour. Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde. Es gibt Individuen, die nicht so viel Glück haben und die darum kämpfen, eine Form von Eskapismus zu haben.“
Ein Wechselbad der Gefühle – und Genres
Bei „Forever“ geht es um die bei The Amity Affliction allgegenwärtigen Themen Tod, Einsamkeit und eine gewisse Ausweg- und Aussichtslosigkeit, begleitet von einem Hoffnungsschimmer. Die zerbrechliche letzte Zeile „We can’t live forever“ wird abgelöst von dem brachialen Intro von „Born To Lose“, das sich definitiv bei den härteren Tracks dieses Albums einordnen lässt und eine interessante stilistische Abwechslung bietet.
Weiter geht das Wechselbad der Gefühle mit „Just Like Me“, das, wenn der düstere Text nicht wäre, beinahe den Eindruck vermittelt, auf einem Pop- oder Alternative-Album gelandet zu sein. Vermutlich liegt das hauptsächlich an der gepfiffenen Melodie, wie sie aktuell recht beliebt ist. Doch findet sich auch hier wieder Klargesang von Joel und die Stimmen beider Sänger schaffen es, diesen Song interessant und vielschichtig zu machen, wie man es beim Intro fast nicht erwartet hätte.
„Ich möchte, dass jeder weiß, dass es andere da draußen gibt, deren Leben unglaublich aussieht, aber die dennoch strugglen. Psychische Erkrankungen sind kompromiss- und rücksichtlos. Du kannst nichts dafür. Es ist nicht deine Schuld. Darum geht es.“ (Joel Birch)
Ein starkes Ende
„Fever Dream“ ist ein schönes Beispiel für die Entwicklung, die The Amity Affliction mit „Misery“ begonnen haben. Wirkt dieses in der Diskografie noch ein wenig deplatziert, beziehungsweise einfach sehr anders, greift „Fever Dream“ die starken Elemente dieses Albums auf und mischt sie mit der „neuen“ alten Post-Hardcore-Wucht, gepaart mit einem gefühlvollen Refrain, wie man sie auf „Chasing Ghosts“ lieben gelernt hat.
Zuletzt gibt es mit „Catatonia“ die dritte Vorab-Single zu hören, die noch einmal eine Verbindung zu „All My Friends Are Dead“ bildet. Auch spielt der Refrain mit der Zeile „I know that I should be happy“ auf den Titel des Albums an. Auch der Titel ist nicht zufällig gewählt, stellt Katatonie doch meistens eine Starre dar, die Unfähigkeit sich zu regen oder zu reagieren (natürlich nicht ausschließlich). Joel erklärt den Song: „Als wir ‚Misery‘ aufgenommen haben, hat sich ein guter Freund umgebracht. Wir waren allein in Toronto. Das Wetter war miserabel. Sein Tod traf mich wie eine Tonne Ziegelsteine, und ich verbrachte mehrere Stunden auf dem Boden liegend, ohne mich bewegen zu können.“
Eine Brücke, eine Reise und ein Statement
„Everyone Loves You Once You Leave Them“ ist vieles. Es ist ein klares Statement und ein Weckruf. Es spricht Tabu-Themen wie psychische Krankheiten und Suizidgedanken an, verarbeitet Verlust und Trauer und macht deutlich, dass jeder, ungeachtet von Bekanntheit, Erfolg und sozialem Status, Probleme haben kann. Es ist ein Wechselbad der Gefühle und eine bunte Mischung aus Genres, die man einer Band eigentlich nur positiv anrechnen kann und die hier wirklich gelungen ist. Es stellt eine Brücke zwischen den alten und neuen Werken von The Amity Affliction dar und weist in eine interessante Richtung, die die Band in ihrer bisher vielfältigsten Form zeigt. Vor allem aber ist es ein verdammt starkes Album – nicht nur musikalisch sondern auch für das, wofür es steht.
„Ich würde mich freuen, wenn die Menschen mit uns auf diese Reise gehen. Vielleicht könnte es ihren Tag ein wenig besser machen. Ich lebe für Musik, sie bringt mich dazu, weiterzumachen. Wenn wir das für jemand anderen tun können, wäre das unglaublich.“ (Ahren Stringer)