Ich erinnere mich noch gut, wie ich am 31. Dezember 2019 kurz vor Mitternacht mein Glas in die Luft schwang und verkündete, dass das Schnapszahljahr 2020 mein Jahr wird – Punkt!
„Ich hoffe, dass wir nie wieder vergessen werden, wie wertvoll eine Umarmung ist.“
Während also mit der Kultur ein Teil meines Lebens, vor meinen Augen zusammenbricht, mir klar wird, dass ich 2020 weder Konzerte besuchen, noch veranstalten werde, fordert mein gerade frisch angetretener Job mit Leitungsfunktion in der MHH mehr, als meine volle Aufmerksamkeit. Ernsthaft, was da an „work life balance“ übrig bleibt, könnt Ihr Euch denken.
Doch auch, wenn das echt beschissen und ermüdend für meine heile Welt war, sehe ich in diesem besonderen Jahr gleichermaßen viel Positives: Neben so richtig guten Freunden habe ich einen arschvoll Privilegien, die für uns seit langer Zeit selbstverständlich sind, für Menschen, die aber beispielsweise in Lagern wie Moria oder Vathy eingesperrt werden oder staaten- und passlos, auf dem Festland Europas mit geschlossenen Grenzen, ausgesetzt werden, nicht. Ein Dach über dem Kopf und ein warmes Bett zu haben, bedeutet unfassbar viel Glück.
„Ich wünsche mir, dass ich mich in meinem nächsten Jahresrückblick darüber freuen werde, dass mir im pit eine verschwitzte Achsel über den Kopf gezogen wurde.“
Ich möchte behaupten, dass es den Meisten von uns ganz gut geht. Und ich denke, dass es gleichwohl legitim ist, das zu wissen und trotzdem bis auf die Knochen genervt zu sein. Es ist völlig okay all das, was uns gerade fehlt, zurückzuwollen und vielleicht ist es sogar wichtig mal wahrzunehmen, dass uns diese Livemusik, das Theater, die Stadien bis kleinen versifften Kellerclubs und all das, was Kultur bedeutet, so bitterlich fehlt, denn auch das ist nicht selbstverständlich und so, wie für uns in diesem Jahr, längst nicht für jeden Menschen immer bedingungslos verfügbar.
Ich hoffe, dass uns 2020 Wertschätzung, Genügsamkeit, Zufriedenheit und Solidarität lehrt und ich hoffe, dass wir nie wieder vergessen werden, wie wertvoll eine Umarmung ist.
Meine Lieblingsalben 2020
Get Dead – Dancing With The Curse
Es ist echt zum Heulen, dass es noch verflucht lange dauern wird, bis wir dieses Meisterwerk live erleben dürfen. Lasst Get Dead vielleicht nicht die erste Band sein, die nach der Pandemie Europa betourt – mit „Dancing With The Curse“ werden die Musiker und ihre Fans diesen Kontinent ohne mit der Wimper zu zucken niederbrennen.
Bruce Springsteen – Letter To You
„Letter To You“ ist das vielleicht persönlichste Statement, das Springsteen je mit einem Studioalbum in die Welt getragen hat und vielleicht sogar das beste Album, dass der 71-jährige Musiker in den letzten 40 Jahren veröffentlicht hat. Man bliebe nicht bei der Wahrheit, würde man behaupten, dass einem die Gänsehaut nur eine halbe handbreit Wasser unterm Kiel lässt. Es ist das Wie, die Art und Weise – es ist die unangefochtene Offenheit, die emotionale Authentizität und am Ende das Gefühl der Verletzbarkeit, zu welchem Bruce Springsteen uns einen Zugang schenkt. Er macht uns zu einem Teil seines Lebens und während man beginnt zu verstehen, öffnet der Boss sein Herz.
Bayside – Acoustic Volume 3
Ich schmelze bei jeden Song!
Meanbirds – Confessions Of An Unrest Drama Queen
„The Clash und The Briefs treffen auf Rancid“, sagt Archi und ich stimme zu. Die Platte lief das ganze Jahr immer wieder. Durch den nicht ganz sauberen Sound verfalle ich in unfassbar starke Erinnerungen an eine Jugend, die ich nicht missen möchte – auf den Straßen, am See, in Jugendzentren und vor allem unter so vielen großartigen Menschen!
Screeching Weasel – Some Freaks Of Atavism
Ich möchte bei der Platte keine Sekunde ruhig sitzen bleiben!
Das selbstbetitelte Album der Punkrock „Stars“ ist für mich das Debüt des Jahres! Einfach eine starke Platte, die alle Erwartungen übertreffen konnte und nie langweilig wurde. Übrigens war ich – wie ich es immer bin – vor meinem Interview mit Dennis Lyxzen ein ganz klein wenig uffjerescht.
Im Vergleich zum Vorgängeralbum „Warriors“ zeigt sich „The Ride“ mehr auf die Fragen zur eigenen Identität fokussiert, vergisst dabei aber auch die gesellschaftspolitischen Umstände nicht. Das Persönliche ist nämlich auch immer politisch: „Smashing the violence and hate cuz we’re greater than we’re taught or told!“. Starke Scheibe!
In dieser Platte stecken einfach so unfassbar viele Emotionen drinnen, dass man gar keine Chance hat, den Kopf in den Sand zu stecken. Die Musiker motivieren und untermauern das Bewusstsein, dass es sich am besten gemeinsam im Sturm steht. Dabei legen sie die Hand auf die Schultern ihrer Zuhörer und versichern, dass es irgendwann wieder richtig gut sein wird.
Mercy Music – Nothing In The Dark
Glücklicherweise bleibt nicht alles, was in Vegas passiert unter der Dunstglocke der Stadt in Nevada im Geheimen. „Nothing In The Dark“ ist definitiv ein starkes Album, das mehr als gut reingeht und musikalisch genau auf dem thematisch steinigen Wegen vom Erwachsenwerden, von Enttäuschungen und dem Wiederaufstehen landet. Wir sollten schleunigst aufstehen; es liegt noch einiges an Arbeit vor uns. Die Devise der neuesten Mercy Music Platte ist es jedenfalls immer wieder aufzustehen und für die eigenen Grundsätze, für Solidarität und Gerechtigkeit zu kämpfen – egal, wie still man dich machen will.
The Lawrence Arms – Skeleton Coast
Was hab ich mich in diese Platte verliebt. Und dieses Drama um Kingsroad und die rosa Pressung. Aber irgendwie schön wahrzunehmen, dass wir auch 2020 so richtige Probleme hatten. 😀
„Soleway Star“ ist, nachdem Debütalbum „Young Poets“ aus dem Jahr 2017, nicht nur eine klare musikalische Steigerung der Schotten, sondern auch ein richtig vernünftiges, außerordentlich leidenschaftliches und verdammt eingängiges Album zwischen Wut und Weltschmerz und Aufbruch und Zuversicht – ich bin immer noch maximal von mir selbst genervt, dass ich bei der Show im Lux krank zu Hause lag.
Ich habe keine Ahnung, ob ich „21 Days“ schon mal gehört habe, ohne, dass die Tränen liefen. Ich bin dieses Jahr eh ziemlich nah am Wasser gebaut und mir kommen selbst bei Konzertmitschnitten und damit verbundenen Menschenansammlungen die Tränen. Irre, oder? Ich glaube „Local Honey“ habe ich einfach durch geheult – gut, dass wir nur über acht Songs reden.
Less Than Jake – Silver Linings
Danke für dieses großartige Album. Less Than Jake haben „Silver Linings“ zu einer, für mich, perfekten Zeit veröffentlicht. Eine Zeit, die fast ausschließlich von dem Gefühl der Erschöpfung gefüllt war. Dank Papa gab es dieses Jahr allerdings einen Schnapspralinen-Adventskalender mit fancy, in Schokolade ummantelten, Cocktails – und jeder weiß, dass Adventskalender direkt nach dem Aufstehen zu öffnen und verspeisen sind. Mit gut gestimmter Laune und Less Than Jake auf den Ohren ging es also nahezu jeden Dezembertag zur Arbeit.
Besuchte Konzerte 2020
Drei Konzerte in diesem Jahr. Was für ein Schnitt. Noch eine Woche, dann habe ich meine Kamera zehn Monate nicht in der Hand gehabt. Kein Festival, kein Stadion, kein versiffter Herzensclub. Ich fange gar nicht erst an zu fluchen, denn ich würde vermutlich nicht wieder aufhören. Und gleichermaßen habe ich Angst. Ich frage mich, ob man das Fotografieren verlernen kann – denn zur Konzert – und Livefotografie gibt es nichts Vergleichbares.
Dropkick Murphys, Frank Turner & The Sleeping Souls und Jesse Ahern – Swiss Life Hall
Wie arrogant wir Anfang des Jahres noch darüber philosophierten, was das für ein schwacher Auftritt der Murphys war… watt wünscht‘ ich mir diese Show zurück.
Richie Ramone und Chaos Commute – Lux
Diesen Abend werde ich wohl nie vergessen. Es ist Montag, der 9. März. Zwei Tage später: Lockdown. Zwei Tage früher: Ich komme aus meinem Nordseeurlaub zurück. Dieser Montag scheint für meine kleine Welt ein Moment zwischen Raum und Zeit oder wie wir heute so schön sagen, zwischen der alten und neuen Normalität zu sein. In zwei Tagen hat sich eine ganze Wahrnehmung verändert, obwohl das Ausmaß noch lange nicht abzusehen war. Für mich ein historischer Moment und für immer das letzte Konzert, bevor sich die Türen der Venues für eine viel zu lange Zeit schließen sollten.
Terry Hoax – Autokonzert
Sowas verrücktes hab ich noch nie erlebt. Da sitzt man in seinem Auto und plötzlich entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, das man bei aller Vorstellungskraft nicht erwartet hätte. Schon da fühlte ich mich unsicher an meiner Kamera, schon da war das, was für mich immer mein sicherer Raum bedeutete ins Wanken gekommen. Meine größte Anerkennung geht an all die Menschen, die Ideen entwickelt haben, kreativ waren, Konzepte realisiert haben, Monat für Monat Livestreams in die Welt getragen haben, sich solidarisiert haben und irgendwie versucht haben die Kultur am Laufen zu halten. Ihr alle da draußen habt in dieser winzigen Möglichkeit großartiges geleistet!
Mein Neuentdeckung 2020
Es braucht keine Sekunde bis dieser Song meine Zeit ein bisschen zum Stehen bringt. Vor meinem Auge tanzen Emoherzen mit Rockgören Arm in Arm durch den Sonnenuntergang. Ist dieser Song nicht einfach nur schön? Ich kann dabei richtig gut in einen entspannten Samstag oder Sonntag starten, meinen ersten Kaffee genießen oder strahlend durch die Gegend spazieren. Hach! Wenn Ihr die Jungs aus Scranton mögt, sagt es Ihnen. Es ist nämlich auch besonders schön, wie sehr The Maguas sich freuen können.
Worauf ich mich 2021 am meisten freue
Ich wünsche mir, dass ich mich in meinem nächsten Jahresrückblick darüber freuen werde, dass mir eine verschwitzte Achsel im Pit über den Kopf gezogen wurde. Außerdem freue ich mich darauf, dass wir Dinge anpacken werden, die aktuell noch zu Tabuthemen gehören oder ungemütlich sind. Arme hochkrempeln, es gibt noch einiges zu tun.
Und hey, sagt den Menschen, die Euch wichtig sind, dass Ihr sie gern habt. Ich denke all unsere Seelen können das gerade richtig gut gebrauchen und es tut auch gar nicht weh.
Ich freue mich sehr darauf, Euch alle spätestens in einem Jahr in den Arm zu nehmen. ❤