Die Tiere rufen es aus Tschernobyl – Jens Rachut ist zurück! Das Hamburger Punk-Urgestein bricht gemeinsam mit Mitgliedern von Yass, Ten Volt Shock und Kurt mit Maulgruppe zu neuen, elektronischen Ufern auf.
Ein Swipe nach links
Das Erstlingswerk „Tiere in Tschernobyl“ hält auf gut 40 Minuten elf eigenwillige Songs bereit. Als wären Alte Sau, Nuclear Raped Fuck Bomb und Kommando Sonne-nmilch erst auf einem Tisch verteilt und dann zu einem dunkelgrauen Electro-Wave-Monolithen verschmolzen worden. Was zuerst noch nach Chaos, Anarchie und Wahnsinn klingt, wird bei genauerem Hinhören durch die Rachutschen Texte mit viel Sinn und Wahrheit gefüllt. So wie in der vorab ausgekoppelten Single „Tinderbaby“, in der es um die wunderbar-grausame Oberflächlichkeit der zeitgenössischen Partnersuche geht: „Wenns nicht klappt, das nächste Foto, aus dem Katalog, der Unsichtbaren“. Und zeigt mit der Zeile „Ich chat dich an, du erwiderst nichts“ auf, worum es bei Tinder eigentlich geht: Neurotisches Aufpolieren der eigenen Persönlichkeit und Ego-Profilierung.
Depressionen, Elphi, Fuck
Natürlich fehlt es auch an gesellschaftspolitischen Themen nicht. Eine dekadent-narzisstische Verschwendung von Millionen heißt es in „Das Volk“ beispielsweise über die Hamburger Elbphilharmonie. Auch Depressionen sind für die Punks ein Thema, das sie in „Selbstmitleid trinken“ erstaunlich feinfühlig aufarbeiten. Den immer wiederkehrenden Alltagszwängen ist das Stück „Jäger“ gewidmet. Frei nach dem Motto „Arbeiten, Fernsehen, Schlafen und morgen der ganze Scheiß von vorn“ verdichtet sich Rachuts Text auf drängende, unausweichliche Weise: „Bei Gelb noch rüber laufen. Bei Grün ist alles klar. Danach die rote Phase. Fuck! Fuck! Fuck!“
Starke Wave-Einflüsse und stoisch treibende Electrosounds
Umfangen werden die verschachtelten Texte von stoisch treiben Electrosounds. Bei den düsteren Gitarren-Riffs und Keyboardklängen lassen sich starke Wave-Einflüsse erkennen. Und doch scheint es auf „Tiere in Tschernobyl“, als bräuchten Maulgruppe einige Tracks, bis man sich auf eine gemeinsame Mission einigen kann. Aber schließlich klappt es doch und das Erstlingswerk kann mit einigen soliden Stücken aufwarten, von denen „Geh zum Arzt du Affe“ wahrscheinlich das höchste Ohrwurm-Potential hat.