Es ist eigentlich nicht schwer zu verstehen, dass wir, auch wenn wir es aus unserer wohlständigen Blase heraus oft eher weniger wahrnehmen, am Arsch sind und diese Welt immer mehr im Chaos versinkt. Sollte es dennoch mal zu Wahrnehmungsverzögerungen kommen, macht das gar nichts,, macht das gar nichts, da sich Bad Religion nach sechs (!) Jahren mit ihrem 17. (!) Studioalbum zurückmelden und den Finger genau da reinpressen, wo er hingehört – nämlich mindestens ordentlich salzig in die Wunde.
„Es ist schwer, die Menschen dazu zu bringen, über diese Dinge zu lesen. Vielleicht kann dieses Album helfen.“
Alles wie immer, nur besser
Ohne pathetisch klingen zu wollen, jagt hier ein Hit den anderen. Da man wohl den wenigsten Bands einen ähnlichen Wiedererkennungswert wie den Musikern aus Los Angeles bescheinigen kann, klingt alles ein bisschen wie immer, nur eben besser. Das kann durchaus daran liegen, dass ich seit Wochen Ohrwürmer der Bad Religion „Christmas Songs“ im Kopf habe, oder dass man so verdammt lang auf die Platte warten musste, oder eben an der Tatsache, dass die globalen Unruhen das Beste aus dieser, seit jeher politischen Band, herausholen und somit 2019 eins DER Bad Religion Alben vorgelegt wird. Der so geliebte schnelle und melodisch eingängige Sound wirkt positiv aufpoliert, während die alten Themen auch die Neuen sind: Humanismus, Vernunft und Individualismus stehen ganz oben auf der Tagesordnung und werden vielleicht klarer formuliert, als je zuvor: „Die Band steht seit jeher für aufklärerische Werte“, erklärt Co-Songwriter und Gitarrist Brett Gurewitz. „Heute sind diese Werte von Wahrheit, Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Wissenschaft in echter Gefahr. Diese Platte ist unsere Antwort darauf.“
Die unvollkommene Veränderung zu einer offenen Gesellschaft
Thematisch werden Bezüge zu zeitgenössischen Ereignissen gezogen; zu rassistischen Kundgebungen, der Wahl von Trump, der Ausrottung der Mittelschicht, dem Protest von Colin Kaepernick, zu alternativen Fakten und Verschwörungstheorien, sowie zu Hommagen an die literarischen und philosophischen Werke, die die Band schon seit langem inspirieren. So verweist schon der Titel des Albums auf das gleichnamige Buch des mehr als kritischen US-Gründervaters Thomas Paine, während sich immer wieder die zur Lesepflicht auffordernden Zeilen von Philosophen wie Karl Popper oder John Locke einweben. So auch in den Zeilen des gitarrengetriebenen „End of History“, welches die Utopie ablehnt und eine imperfekte Veränderung, für eine offene Gesellschaft fordert.
„Es scheint mir, dass der wirklich barbarische Aspekt einer Zivilisation das Chaos ist, das von innen kommt.“
„Im Laufe der Geschichte wurden Mauern zum Schutz benutzt, um die Barbaren fernzuhalten“, erklärt Graffin und führt zur Erklärung des Tracks „Chaos From Within“ aus „aber es scheint mir, dass der wirklich barbarische Aspekt einer Zivilisation das Chaos ist, das von innen kommt.“ Hier thematisieren die Kalifornier mit Zeilen wie: „“Threat is urgent, existential, with patient wearing thin, but the danger’s elemental, it’s chaos from within“ die Kontroverse um die von Trump geforderte Mauer im sich selbst zerstörenden innenpolitischen Chaos. „The Approach“ thematisiert mit Strophen wie: „Es gibt ein moralisches und intellektuelles Vakuum und es ist richtig, fadenscheinig auszusehen, philosophisch todmüde, die Revolution hat keine Chance.“ das mögliche Ende der Demokratie und auch der Titel „Candidate“ kommt selbsterklärend einher. „Lose Your Head“ ist ein sehr persönlicher Song über das Überleben unbeständiger Zeiten, indem man die Aufmerksamkeit nach innen richtet. Es verbindet Gurewitz Leidenschaft für die Wissenschaft mit seinem lebenslangen, kontemplativen Wirken.
Kill the guy with the ball
„Als ich all diese Schlagzeilen darüber sah, wie schrecklich unsere Welt geworden war, begann ich viel zu lesen.“, erzählt Graffin. „Ich las über die Französische Revolution, die Amerikanische Revolution, den Bürgerkrieg und ich begann zu erkennen, dass dies ein Muster der Geschichte ist und etwas, worauf wir uns nie einlassen sollten. Es gibt zahlreiche Warnungen davor. Jedes Schulkind sollte das wissen, aber es ist schwer, die Menschen dazu zu bringen, über diese Dinge zu lesen. Vielleicht kann dieses Album helfen. Im Moment ist es nämlich so, dass wir mit Social Media beispielsweise nur eine Version von „Kill the guy with the ball“ spielen.“ Immer mehr wird klar, dass Bad Religion tatsächlich rein gar nichts an ihrem Tun verändert haben. Es zeigt nur noch deutlicher, dass die Zeiten der Resignation definitiv vorbei sind. 2019 stehen alle Zeichen auf Ressistance, denn das Offensichtliche ist unumstritten nicht mehr zu leugnen. Einzig die ruhigeren Ausnahmestücke „Big Black Dog“, „Lose Your Head“, „Candidate“ oder das akustisch eingeleitete „End Of History“ zeigen -wenn man es unbedingt gezeigt bekommen muss-, dass hier die Punk-Opis und nicht deren mittzwanziger Neffen am Werk sind und ihre ungebrochene Spielfreude zum Ausdruck bringen. Was das live bedeuten wird, kann man an zwei Fingern abzählen.
Vorsicht Pathos!
Wenn man sich dann doch verdeutlicht, dass wir hier über 40 Jahre Musikgeschichte reden, darf letztendlich der Pathos in all seinem Glanz einziehen. Es ist schon erstaunlich, was diese Band geschaffen hat. Allein, dass Bad Religion so ungebrochen konsequent ihre revolutionäre, so messerscharf analysierte Botschaft in einem Bereich des Punks verbreiten, den man mittlerweile tatsächlich sehr unverhüllt als Mainstream bezeichnen kann, lässt mich beeindruckt meinen Hut ziehen. Wenn ich damit das musiklaische Tempo und die bereits benannte Spielfreude in den mehr als clever arrangierten Songs verbinde, wird mir schnell klar, welches „Hit-Potential“ dieser Silberling hat. Und während ich euch rate, die Werke von Paine, Popper und Locke zu lesen, bleibt mir nicht mehr zu sagen, als ein tiefehrliches: Chapeau!