Boatless Booze Cruise: Der Mittag

Boatless Booze Cruise 2020 Hamburg Online Festival
Foto: Maria Graul

„Hi, sind wir online?“, fragt Josh Mann und startet das Boatless Booze Cruise an diesem 22. März um 12.00 Uhr. Zwölf Stunden Live Musik stehen auf dem Programm. Während man aus London einen guten Morgen wünscht, hat Mike Natoli sich extra den Wecker in den USA gestellt. Mann bedankt sich bei Booze Cruise Macher Stefan und spricht von verrückten und beängstigenden Zeiten. Auch seine Mai-Tour musste vor ein paar Tagen abgesagt werden. Der ehemalige Frontmann der Band Paper Arms hofft allerdings, dass dieses Event ein wenig helfen kann, diese außergewöhnlichen Zeiten zu überstehen. Das Publikum signalisiert deutlich, wie es die australische Band vermisst und Josh überzeugt unterdessen in einer wunderschönen Kulisse aus riesigen Palmen- und Monsterablättern.

„Irgendwie cool zu wissen, dass das gerade alle gucken!“

Am wichtigsten ist es gerade Abstand zu halten

Dave Collide von Bike Age übernimmt und startet mit dem Song „Final Feast“ seiner aktuellen Solo-EP „Stuttgart Ain’t Long Beach“. Er stellt ganz richtig fest, dass es noch ganz schön früh ist und macht ohne große Umschweife mit dem Bike Age Song „Procedure“ weiter. Jens stellt fest, dass Ihm die kurzen Wege zwischen den Bühnen besonders gut gefallen. Dass Dave sein Publikum schon längst auf seiner Seite hat, zeigt sich deutlich in den Kommentarspalten. Man möchte fast die ihm zugeworfenen Daumen und Herzen zählen, muss sich doch schnell eingestehen, dass das vermutlich kaum möglich sei. Gut also, dass Facebook das eh ganz von allein macht. Spätestens beim Tony Sly Cover „Fireball“ sind dann auch die letzten Herzen geschmolzen. Im Verlauf des Tages wird sich Dave Collide nicht nur als großartiger Musiker, sondern auch als begnadeter Biermotivateur zeigen. Bevor er den Song „Ordinary“ anstimmt, stellt Collide richtig fest, dass es wohl das wichtigste sei, aktuell Abstand zueinander zu halten – einen Satz, den man auf einem Konzert selten hört.

Recht hat er, denn dieser Abstand wird uns hoffentlich bald wieder in den Clubs und Veranstaltungsräumen dieser Welt zusammen bringen. Egal ob Indoor oder Open Air. Egal ob Wohnzimmerkonzert oder Festival; der jetzt gewählte Abstand wird über die Zeit, die wir auf dem Sofa verbringen müssen, entscheiden.

Optimistische Dekoration im Hintergrund

Als Ben David, Frontmann der Band The Hard Aches aus Adelaide loslegt, sieht man Frank seinem Kumpel Eric zurufen „Komm rübber, geht weiter!“ und Eric reagiert fürsorglich: „Läuft, brauchste was von der Bar? :)“ Ben überzeugt mit seiner außergewöhnlichen Stimme. Als Jens die Location genauer unter die Lupe nimmt und feststellt: „Optimistische Dekoration im Hintergrund, das gefällt mir!“, reiht sich Stephan albern mit den Worten „Der Roadie wirkt krank“ ein. Ben gibt unterdessen alles. Er bemerkt, dass es echt seltsam ist, ein Konzert vor seiner Webcam zu geben, dass das aber offensichtlich die Zukunft ist. Dem aufmerksamen Zuschauer fällt auf, dass es absolut faszinierend ist, in welch stoischer Ruhe sein Hund währenddessen schläft. Da muss Ben schon ganz schönen abliefern, um die Aufmerksamkeit der schockverliebten Tops Fans zu behalten – schafft er natürlich locker und wird mit viel Emoji-Applaus und Dankesbekundungen aus der Webcam entlassen.

Ein Hoch auf die Digitalisierung

Die Hamburger Band Shellycoat, die sich selbst als passionierte Konzertgänger bezeichnet, ist froh dabei sein zu dürfen. Sie sind die ersten, die gemeinsam als Band auftreten und haben sich dafür den größten Raum ausgesucht, den sie finden konnten. Die Musiker spielen ihr Set heute nur zu viert, da der Bassist der Band aktuell in Budapest festhängt. Mit einer energetischen Show feuern sie das Publikum an, auch auf dem Sofa mitzuklatschen. Derweilen richten sich immer mehr Booze Cruise Festival Fans in ihrem heimischen Wohnzimmer ein und lassen den Rest in den sozialen Netzwerken teilhaben. Ein Hoch auf die Digitalisierung. Von Anne aus Bielefeld bekomme ich eine sehr wahre Nachricht mit den Worten: „Irgendwie cool zu wissen, dass das gerade alle gucken!“ Ich erinnere mich noch genau, wie ich in meinem Bericht vom letzten Jahr die Booze Cruise Familie in Lobgesänge hüllte. Und nun bewahrheitet sich dieses Gefühl von Gemeinschaft und Zusammenhalt – räumlich getrennt und trotzdem ganz nah beieinander.

„Eine große Booze-Liebes-Umarmung an die ganze Welt!“

Diese ungebrochenen Liebe zur handgemachten Musik

Jason S. Thompson und ich haben schon mal die gleiche Lampe im Wohnzimmer (wir und all die anderen Besitzer des Lampenschirms Nymö eines schwedischen Einrichtungshauses) und so fühle ich mich direkt heimisch. Das sich direkt neben Jason befindende Schnapsglasregal aus natürlich gehaltenen Holzplanken trägt keinen kleinen Beitrag dazu bei. Jason hat mich im Boot und bietet, während ich sein Interieur unter die Lupe nehme, den wunderschönen Song „Broken Photobooths“ aus seinem Album „Half Empty“ dar. Als Daniela virtuell ihr Bier in die Luft streckt, weiß ich, dass ich und vermutliche viele andere dieser Veranstaltungen mit dieser ungebrochenen Liebe zur handgemachten Musik nicht allein sind.

Allein fühlt sich heute ganz sicher keiner und Farinante Thömas schreibt aus, was wohl viele denken: „Eine große Booze-Liebes-Umarmung an die ganze Welt! Ich bin jetzt gleichzeitig sentimental und glücklich!“

Das Publikum macht unterdessen das, was im Namen Programm ist. Es wird gesoffen (anders kann man das vermutlich nicht betiteln, wenn man sich parallel die Instagram Storys im eigenen Feed anschaut), was das Zeug hält – Bier, Wein, Schnaps, Kaffe und Ingwertee mit Zitrone und Alex unterstützt diese Wahrnehmung mit dem wichtigen Hinweis „Stay hydrated everyone!

Der Nachteil am Wohnzimmerfestival ist allerdings, dass man in der Regel immer und überall Handyempfang hat und so ruft Oma genau in dem Moment an, als Jason davon singt, wie es war, als man sich das letzte Mal sah und in Gainesville tätowiert wurde. Da Omas natürlich immer die besten Ratschläge im Gepäck haben, fragt sie mich, ob ich schon ein Likörchen hatte und stellt ganz richtig fest, dass ich mir Jasons Video doch immer wieder anschauen könnte – recht hat sie und ich steige bei Billy Liar wieder ein.

Eine dieser außergewöhnlichen Stimmen

Billy Liar, den Brooklyn Vegan als den „Scottish sad bastard“ bezeichnete, gehört für uns zu den richtig sympathischen Typen in diesem Business. Auch er hat eine dieser außergewöhnlichen Stimmen, die einen sofort in tausend wunderschönen und tieftraurigen Erinnerungen schwelgen lassen.

Wie uns die Kulisse von Billys Auftritt zeigt, wird auch er nicht so schnell dehydrieren und seine Plattensammlung scheint auch recht ansehnlich zu sein – ja, ja Freunde, diese Konzerte in den eigenen vier Wänden verraten uns noch viel mehr über die Künstler, als wir bisher dachten. „Change“ vom aktuellen Album “ Some Legacy“ wird angestimmt und tosender Applaus ertönt in der Kommentarspalte.

Billy wünscht sich sehr, dass wir im Sommer in Hamburg zusammen feiern können und bedankt sich für diese Aktion, die die coolen Läden der Hamburger Szene unterstützen soll. Während Luisa berichtet, dass Billys Auftritt ihren Tag sehr viel schöner gemacht hat, zerstört Peter sein Wohnzimmer „tanzend“ – das ist definitiv Punk.

„Punk zu sein heißt in den aktuellen Zeiten genau so zu sein, wie jeder von Euch. Dafür bedanken wir uns!“

Die Frage, ob das denn alles noch Punk sei, haben wir uns in den letzten Jahrzehnten oft gestellt, sie aber auch immer und immer wieder gehört und gelesen. Heute können wir sie vielleicht zum erstmal ganz klar beantworten: Punk 2020 heißt solidarisch zu sein und sich auch für den rechts und links neben uns zu interessieren. Es heißt seinen Hintern aktuell zu Hause zu lassen und diese ganze Scheiße auszuhalten und abzuwarten, so schwer es auch ist und werden wird. Punk zu sein heißt, das Dosentelefon über die Straße oder den Balkon zu spannen und gemeinsam in diversen Video-Call-Trinkhallen einen zu heben. Es heißt sich freiwillig in seiner Freiheit beschränken zu lassen, um Leben zu retten und denen, die Arbeit zu erleichtern, die weiterhin nicht ins Home Office können. Punk zu sein heißt, in den aktuellen Zeiten genau so zu sein, wie jeder von Euch. Dafür bedanken wir uns!

Jawoll, jetzt ist es perfekt!

Leicht angetüdelt geht es mit David Finke von Eaten By Snakes weiter. Das mit dem leicht angetüdelt bewahrheitet sich allerdings schnell als optische Täuschung, da uns David an der Optimierung seiner Webcam teilhaben lässt. Das ist noch richtig echt, so richtig ohne doppelten Boden, so richtig DIY halt. Das liebe ich. Aus dem Publikum feuern die Kommentare: „Go, go, go“, „Passt alles so“ oder „Jawoll, jetzt ist es perfekt!“

Den kurzen Drehschwindel hinter mir gelassen, freue ich mich über den sympathischen Einstieg und den Support des Plan B in Bielefeld. Es ist klar, dass der Fokus dieser Veranstaltung auf Hamburg liegt, dabei darf aber keiner vergessen, dass viele unserer so geliebten Subkulturläden in Gefahr sind.

Los geht es mit dem Song „Sun Up, Sun Down“ vom selbstbetitelten 2018er Album und Craig Shay fragt sich, ob tatsächlich jemand aus der Band von Schlangen gefressen wurde. Zur Belohnung für so viel Scharfsinn gibt es den brandneuen Song „Back Into My Head“ und natürlich wurde auch schon die Glaubwürdigkeit Bielefelds angezweifelt. Freunde, das hat mittlerweile doch echt einen Bart!

Sehr erfreulich ist allerdings die Info, dass Eaten By Snakes noch in diesem, aber spätestens nächstem Jahr einen neue Platte herausbringen werden und die Aufnahmen bereits abgeschlossen sind. Wir sind, nachdem David auch „Deep Blue Sea“ zum Besten gibt, entscheiden für früher, als später.

„I am a real American. Fight for the rights of every man. I’m a real American. Fight for what’s right – fight for your life!“

All die schönen Momente vom letzten Sommer

Weiter geht es mit Mike Terry von The Jukebox Romantics. Dieser scheut weder Kosten noch Mühen und fährt das wohl aufwendigste Intro dieses Tages auf. Das Mike ein absoluter Profi auf seinem Gebiet ist, zeigt schon die Werbekeule, die er in den Tagen vor dem Boatless Booze Cruise Festival rührte. Mit den Worten „Ich kann etwa fünf Cover auf der Gitarre spielen. Was wollt ihr hören?“ bezieht er die Fans ein und lässt abstimmen, welcher Coversong gewünscht ist. Diese Abstimmung verläuft eindeutig und so freut sich das Publikum auf einen kleinen Exkurs zu The Bouncing Souls und Face To Face. Warum sind die eigentlich nicht eingeladen?

Während ich nun überlege, meinen Keller in eine dieser sympathisch versifften Kneipen mit Livemusik umzufunktionieren, betritt Terry in einen schwarzen Bademantel und ordentlich Pathos gehüllt, die Bühne. „I am a real American. Fight for the rights of every man. I’m a real American. Fight for what’s right – fight for your life!“ ertönt aus den Boxen und Terry tanzt gemeinsam mit Hulk Hogan und bayrischem Partyhut über die Sofabühne. Hier mal unter uns, diese ersten 1.25 Minuten habe ich mir mittlerweile mehr, als nur das eine oder andere Mal angeschaut. Große, große Liebe.

Terry erinnert sich an all die schönen Momente vom letzten Sommer. Grüße gehen raus an The Run Up. The Sewer Rats werden im kommentierenden Publikum gesucht. Dom schickt direkt ein tiefrotes Herz von Köln nach New York und Ben aus Hannover brüllt „Hello Handsome“ während man sich vorstellen kann, wie er jetzt in der ersten Reihe des Menschenzoos in Terrys Arm liegen würde oder irgendwo in einen Crowdsurf verwickelt wäre. Rechts daneben würden, wenn wir uns diesen kleinen Ausflug erlauben, Archi gemeinsam mit Bobby ins Mikrofon singen. Bei dem hier zu lesenden Applaus hätten vermutlich selbst Terrys New Yorker Nachbarn Spaß.

Bildergalerie: Boatless Booze Cruise Festival

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