Selbstbestimmter, fanbezogener und authenthischer sein – das ist das Ziel von Boysetsfire. Die US-Hardcoreband steht mit ihrem neuen, selbstbetitelten Album in den Startlöchern, das in Eigenregie produziert wurde und ebenfalls selbst über das eigene Label End Hits Records veröffentlichen wird. Bassist Robert Ehrenbrand (ganz links im Bild) berichtet in unserem Interview nicht nur über Boysetsfire und das neue Album, sondern auch über sich selbst.
Robert, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, ein paar Fragen für unsere Leser zu beantworten. Wir freuen uns, dass es klappt!
Robert (BSF): Ich habe Euch und Euren Lesern für den Support zu danken. Freut mich sehr!
Es liegen bewegte Jahre hinter dir, kurz bevor Boysetsfire dich als Roadie wollten, hast du deinen Job bei Sony Music gekündigt, um dich der Musik nicht mehr nur vom Bürostuhl aus zu widmen. Welche Pläne hattest du vor der Anfrage der Band?
„Bewegte Jahre“ trifft es sehr gut (lacht)! Das kann man wohl sagen. Ich habe mit 19 mein damaliges Studium abgebrochen und bin relativ spontan von München nach Berlin gezogen mit dem festen Ziel, Profimusiker zu werden. Ich hatte einfach das Gefühl, eine größere Stadt würde mir mehr Chancen bieten Musik auch zu meinem Hauptberuf zu machen, aber nach einigen Monaten habe ich schnell gemerkt, dass ich meine Miete eher nicht mit angehenden Bandprojekten stemmen kann. Da ich keine Ausbildung oder dergleichen hatte landete ich sozusagen zwangsläufig in der Musikindustrie und arbeitete anderthalb Jahre bei Sony Music. Ich habe aber schnell eingesehen, dass dieses hinter einem Schreibtisch sitzen keinesfalls ist was ich die nächsten Jahre machen möchte und habe somit – wieder spontan… Du merkst ich bin eine recht impulsive Person, die nicht viel plant – aus heiterem Himmel gekündigt. Alle in der Plattenfirma dachten damals ich hätte ein besser bezahltes Jobangebot, über das ich nicht reden könnte (lacht). In Wirklichkeit wollte ich einfach wieder „frei“ sein das zu machen, was ich immer wollte: Musik. Und jetzt wird es etwas mystisch, weil genau zwei oder drei Tage nach meiner Kündigung (wir erinnern uns: ich hatte keine weiteren Pläne, außer wieder mehr Musik zu machen und dabei nicht zu verhungern) riefen mich meine alten Freunde von Boysetsfire an und fragten mich, ob ich als Roadie mit Ihnen auf Tour gehen wollen würde. Das war verrückt, denn sie wussten nichts von meiner Kündigung. Es hat wohl sollen sein… und der Rest ist Geschichte (lacht).
Dann warst du als Stage Techniker sowohl in Europa als auch der USA unterwegs, bist flugs auf einem Festival zum Basser befördert worden, in die Staaten gezogen und ein paar Jahre später bei BSF ausgetreten, woraufhin du mit viel Engagement durch die Band zurück geholt wurdest. Was macht das mit einem, wenn man in einer Zeit, in der es immer häufiger heißt dass jeder stets ersetzbar ist, so viel Loyalität und Zuspruch von offensichtlich sehr verbunden Menschen bekommt?
Ich bin immer noch sprachlos, wie vehement sich meine Bandkollegen aller Vernunft wiedersetzen und wirklich alles tun, um mir zu ermöglichen, in der Band zu sein. Das ist schon verrückt und genau, gerade in einer Zeit, wo vieler Orts nur wirtschaftliche Ziele den Ton angeben. Es zeigt einfach unglaublich schön und deutlich was BSF wirklich ist: Eine Familie, nicht einfach nur eine Band. Wir werden auch weiterhin alles dafür tun, von den üblichen Vorgehensweisen und regeln der Musikindustrie fern zu bleiben und das zu beschützen, worum es uns geht: Beste Freunde, die gemeinsam Ihren Weg gehen.
Du bist 2011 bei Boysetsfire ausgetreten, um in deine Heimat Bayern zurückzukehren. Lebst du noch in München oder hat es dich wieder nach Amerika verschlagen? Was ist am jeweiligen Lebensmittelpunkt das Wichtigste und Einprägsamste für dich geworden? Gibt es Dinge die dir fehlen?
Ich bin bereits nach der Auflösung der Band 2007 zurück in meine Heimatstadt München gezogen, um wieder näher an meiner Familie zu sein. Dort habe ich dann sehr schnell meine Frau kennengelernt und mittlerweile sind zwei Kinder und ein Hund dazugekommen. Der Lebensmittelpunkt ist weiterhin München, aber ich bin natürlich wegen der Band entsprechend oft in meiner zweiten Heimat USA, wo ich mich auch nach wie vor sehr wohl fühle. „Home is where the heart is“ und da ist meine Familie eben aufgeteilt auf zwei Länder. Frau und Kids in Deutschland und Band in USA. Ich schätze beide Orte sehr. Meine Zeit in den USA war selbstverständlich sehr viel wilder und weniger strukturiert als mein Leben jetzt. Ich war ein Bier-trinkender Surf-Punk, der am Strand von New Jersey wohnte und ständig tourte. Mittlerweile trinke ich schon viele Jahre nicht mehr, treibe sehr viel (Kampf)Sport und hab mich sehr viel besser im Griff. Aber mir macht es Spaß nach wie vor viel in den USA zu sein, denn ich vermisse meine BSF-Brüder immer sehr, wenn ich in Deutschland bin. Deshalb freue ich mich auch immer sehr auf jegliche Studio-Session oder Tour.
Wie sieht ein ganz normaler Tag bei dir aus? Hast du feste Rituale und gibt es Dinge, die du in deinem Leben nicht mehr missen magst?
Meine Bandkollegen sagen mir manchmal nach, dass aus mir auch ein ganz guter Mönch geworden wäre (lacht)… Ich schätze eine gewisse Routine sehr, stehe gern früh auf, verzichte schon seit Jahren auf jegliche Drogen oder Alkohol und ernähre mich sehr gesund. Zu einem guten Tag gehört für mich auch unbedingt Sport, ich bin leidenschaftlicher Boxer und Thaiboxer, laufe gern, mache Kraft- und Konditionstraining und bewege mich einfach gern und das auch jeden Tag. Ansonsten liebe ich Bücher und Zeit mit meiner Frau und meinen Kindern zu verbringen. Was komplett ausfällt bei mir ist „Nightlife“, wenn ich nicht gerade ein Konzert spiele bin ich entweder draußen, beim Sport oder zu Hause. Eine weitere Sache die mir sehr ans Herz gewachsen ist, ist mein Podcast Kampfgeist, den ich mit David (aka Roger Rekless beziehungsweise dem Sänger von GWLT) mache. Wir reden alle zwei Wochen über Musik und Kampfsport und haben eine großartige Zeit. Wen das mal interessiert, einfach auf iTunes unter Podcasts suchen. (Oder folgt doch einfach diesem Link)
In verschiedenen Interviews hast du darüber gesprochen, dass du seit du 16 Jahre alt bist aktiv an dem kulturellen Erbe des alten, vedischen Indiens interessiert bist. Erklärst du uns was man sich darunter vorstellen kann und was dich dazu geführt hat dieser Tradition so lange Zeit die Stange zu halten? Wie integrierst du diese Kultur in deinem Leben?
Ich bin damals über die Hare Krsna-Band Shelter auf die alte indische Tradition des Vaishnavismus gestossen und sowohl der darin enthaltene Vegetarismus als auch die Bücher und Rituale der Tradition haben mich sehr angesprochen. Ich habe aber zeitgleich sehr schnell gemerkt, dass ich mit dogmatischen spirituellen Organisationen nichts anfangen kann und ich habe diese Bücher und Texte somit eher als Inspiration aufgesaugt und so ist das heute noch. Ich liebe die Bhagavad-Gita und die Geschichten über Hanuman oder Rama, aber ich bin kein Anhänger einer Sekte oder Kirche, im Gegenteil. Wer weiß schon was nach dem Tod kommt… Eben, keiner. Daher halte ich es einfach damit: Was mich inspiriert darf bleiben und was mich einengt oder sogar meinen freien Willen beschneiden will muss gehen. Ich halte gar nichts von organisierter Religion und dafür steht mein Interesse auch nicht, vielmehr geht es mir um ein besseres Kennenlernen von mir selbst durch Meditation und ein erfülltes, inspiriertes Leben. That’s all!
Als Wirtschaftspsychologe in einer Post-Hardcore-Band! Wie kamst du zu der Entscheidung nochmal eine ganz andere Richtung einzuschlagen? Ist es wichtig ab und an die Perspektive zu verändern oder war es einfach eine ganz pragmatische Entscheidung, falls das mit der Musik mal nicht mehr so gut funktioniert?
Pragmatisch kann ich leider nicht, auch wenn das manchmal wirklich gefragt wäre (lacht)… Nein, das kam daher, dass ich es gehasst habe, nach dem Ende der Band 2007 gefragt zu werden was ich beruflich mache und ich musste dann sagen „Ich war bis vor Kurzem tourender Musiker“. Das klang so „von gestern“. Ich habe definitiv nach einer neuen Herausforderung gesucht und das Psychologie-Studium zu packen und sogar mit einer sehr guten Note war für mich ein riesiger persönlicher Erfolg. Mit Karriere hatte das nichts zu tun, vielmehr damit, dass ich weiter wachsen will als Mensch und ich einfach ein umtriebiger und neugieriger Mensch bin. Ich bin sehr froh, dass ich das Studium in Rekordzeit in der Bandpause durchgezogen habe.
Ihr werdet als eine der einflussreichsten Postcore-Institutionen der aktuellen Szene bezeichnet. Was denkst du darüber?
Ich finde solche wertschätzenden Statements sehr schön, aber ziehe auch gleichzeitig die „Jokerkarte“, nicht darüber nachdenken zu wollen und zu müssen… Ich freue mich, wenn unsere Musik Menschen positiv beeinflusst, denn das tut sie bei mir selbst ja auch, aber gleichzeitig sehe ich uns nicht als Institution, sondern als authentische und ehrliche Familie, die noch viel zu sagen hat. Ich freue mich somit weniger über das was war oder bereits passiert ist, als vielmehr auf das, was noch kommt.
Marcel Geminn bekam das Exklusivrecht den ersten Song „Cutting Room Floor“ des am 25. September erscheinenden, selbstbetitelten Albums auf seiner persönlichen Facebookseite zu veröffentlichen. Wie kam es dazu?
Wir suchen als Band stetig nach Wegen noch selbstbestimmter, fanbezogener und authenthischer zu agieren. Wir veröffentlichen unsere Platten auf unserem eigenen Label, buchen unsere eigenen Touren, nehme Teile unserer Alben in unserem eigenen Studio auf, unser Gitarrist produziert unsere Platten und unser „Manager“ ist mein ältester und bester Freund. Alles was mit BSF passiert, ist zu 100 % von uns erschaffen und auch kontrolliert. Somit versuchen wir auch bei einer Situation wie dem Vorstellen eines neuen Songs nach Wegen „außerhalb der Musikindustrie“ zu agieren. Eine weitere lahme Premiere bei einem x-beliebigen Medium war uns nicht gut genug. Wir stecken 100 % Herzblut in unsere Band und somit war es toll, diese Aktion mit jemandem durchzuführen, der auch sein Herzblut investiert, nämlich als Unterstützer und Supporter der Band. Marcel wurde nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und allein seine echte Freude über die Aktion war es schon wert, es so zu machen. Wir wollten damit wieder einmal das Licht auf die Personen werfen, die uns seit Jahren so sehr den Rücken stärken… Menschen wie Marcel!
Auch er ist Musiker, spielt Schlagzeug in der Band Do Me A Favour. Gab es im Vorfeld Kontakt zu ihm oder ist das ganz spontan und durch Zufall entstanden?
Das ist ja cool. Das wusste ich nicht. Nein, wir haben ihn nach Zufall ausgewählt, aber umso besser, dass er selbst auch Musiker ist.
Das neue Album ist sehr viel optimistischer als der Vorgänger „While A Nation Sleeps“. Was hat sich deiner Meinung nach bei Boysetsfire verändert, damit so einen Wandel vollzogen werden kann?
Ich sehe die beiden Alben wie eine Art musikalische und textliche Reise. Sehr eng verbunden, aber doch sehr unterschiedlich. „While A Nation Sleeps“ war sehr viel düsterer, härter und sperriger. Dort legten wir mehr den Finger auf die Wunde. Das neue Album hingegen ist dann die Heilung und die Befreiung. Ich finde es unglaublich spannend, dass sich die Alben so unterscheiden und unterschiedliche Emotionen transportieren. Es ist unser bisher „hoffnungsvollstes“ Werk und hat unglaublich packende Momente. Von all unseren Alben ist es wohl mein liebstes, was ich nie gedacht habe zu sagen, da es bis dato uneingeschränkt „The Misery Index“ war, aber dieses liegt mir beziehungsweise uns ganz besonders am Herzen – durch diese packende Aufbruchsstimmung.
Das neue Album beschäftigt sich intensiv mit Inhalten die diese klare Aufbruchstimmung vermitteln. Wohin soll die Reise denn gehen?
„Aufbruchsstimmung“, „Freiheit“ sind genau die richtigen Worte und Metaphern für das ganze Album. Es wirkt gerade so, dass nun alles offen ist, was die weitere Reise angeht. Ich bin selbst echt gespannt und habe keine Ahnung, was wir als nächstes machen. Das ist ja das schöne an Boysetsfire. Wir sind kein „Fake-Produkt“, sondern eine organisch gewachsene Gemeinschaft, die macht, was sie will. Es soll ja sowohl für uns wie auch für die Zuhörer spannend bleiben. Jetzt wird erstmal das neue Album ordentlich live bespielt. Alles Weitere wird man dann sehen.
Verrätst du uns deine eindrücklichste Story im Zusammenhang mit der Entstehung und den Aufnahmen der neuen Platte?
Du meinst eindrücklicher, als dass es uns nach 21 verrückten Jahren mit vielen Auf und Abs noch immer gibt und das besser gelaunt als jemals zuvor? Das wohl dämlichste war, dass wir uns selbst einen mörderischen Zeitplan gesetzt haben, völlig ohne guten Grund, zumindest kann sich an den Grund keiner mehr erinnern. Wir haben uns fast umgebracht, das Album in der vorgegebenen Zeit umzusetzen und das führte dazu, dass zum Beispiel meine Bass-Parts an einem 18-Stunden-Tag aufgenommen wurden. Und wenn ich die Platte jetzt anhöre war es genau richtig so. Man hört mir dieses durchgedrehte und manische Verfahren richtig an. Der Bass ist präsenter als je zuvor und dreht hinter und unter den Gitarren oft richtig durch. Ich liebe es, aber es war eben auch der Zeitrahmen, der es verboten hat, zuviel zu denken – wir haben einfach losgelegt. Das funktioniert also eigentlich ganz gut, wenngleich ich hoffe, dass wir uns das nächste Mal ein bisschen mehr Zeit nehmen insgesamt. Aber dieses Mal hat diese Kamikaze-Aktion echt genau die richtige Energie erzwungen.
Bald geht es auch wieder auf Tour. Das ist wahrscheinlich ein ganz schöner Kontrast zum alltäglichen Leben. Habt ihr eine klare Rollenverteilung on the Road oder ergeben sich die Abläufe ganz selbstverständlich?
Wir lieben das gemeinsame unterwegs sein, aber wir lassen uns auch alle den nötigen Freiraum, da wir ganz unterschiedliche Tagesabläufe haben. Ich zum Beispiele stehe sehr viel früher auf als meine Bandkollegen, treibe jeden Tourtag Sport und ernähre mich auch auf Tour sehr gesund, um fit zu bleiben. Dafür verpasse ich quasi jegliche Aktivität, die nach dem Konzert passiert, da ich dann zumeist relativ schnell in meiner Nightliner-Bunk verschwinde, indische Düfte versprühe und Sade oder Sinead O’Connor höre. Aber wie gesagt: Unsere Stärke ist gerade, dass wir so verschieden sind und uns dennoch immer gegenseitig unterstützen. „Unity In Diversity“ ist unsere größte Stärke!
Was sind deine wichtigsten Tipps für ein erfolgreiches Band- und Tourleben?
Nimm dich selbst nicht so wichtig, dafür das, was Du machst, umso mehr. Es ist tatsächlich so, dass ein zu großes Ego diese tollen „Flow-Erlebniss“ des gemeinsamen Musik-Machens direkt entgegenwirkt.
BOYSETSFIRE on
Von Maria