Fast auf den Tag zwei Monate ist es her, dass wir über eine Live-Show berichteten. Zu diesem Zeitpunkt bewegten wir das Thema Covid-19 und die damit verbundene Verantwortung, gegenüber unseres Teams, in der Redaktion viel hin und her. Das war der 11. März. Was das alles bedeuten und dass die Welt innerhalb kürzester Zeit in slow motion gesetzt werden sollte, war uns zu diesem Zeitpunkt so gar nicht klar.
Nun ist die Gesellschaft wieder einmal gespalten und während sich die einen auf den Straßen formieren und gegen Beschränkungen und das System wettern, versuchen andere sinnvoll aktiv zu werden, ballen ihre kreative Selbstwirksamkeit und versuchen das, was möglich ist, ins Leben oder um es genauer zu sagen, auf den Parkplatz zu bringen. Neben vielen regionalen und überregionalen Betrieben und Einzelpersonen ist auch Hannover Concerts nicht in die Schockstarre der Dystopie gefallen und bringt nun seit ein paar Tagen gemeinsam mit der event it AG die Livemusik zurück nach Hannover.
„Wir haben Euch vermisst!“
Das Abgefahrenste, was die Band jemals gespielt hat
Am heutigen Abend ist die Hannoveraner Rockband Terry Hoax in schönster Stadionkulisse auf dem Schützenplatz in Hannover zu sehen. 270 Autos sind da und am Ende wird man das Gefühl haben, als stände der ganze Schützenplatz voll mit Benzinkutschen.
Da alles neu, alles besonders und alles irgendwie zum ersten Mal geschieht, verzögert sich der Beginn der Show um knappe fünfzehn Minuten. Schon weit vor dem ersten Ton britzelt die Luft auf dem Schützenplatz. Dass das allerdings nicht an den grau-orange aufgebausten Wolken liegt, die über dem Maschsee hängen, beweist direkt zu Beginn Frontmann Oliver Perau, der diese Show, als das Abgefahrenste beschreibt, was die Band jemals gespielt hat. Das Fahrrad, was der Musiker auf seinem Shirt trägt, wird den einen oder anderen Schmunzler des Abends (zu Recht) kassieren – ein schönes Bild dieser besonderen Umstände.
Seit der Ankündigung der Autokonzerte verdeutlichten auch die sozialen Medien eine sehr gemischte Meinung: Während die einen sofort Feuer und Flamme sind und manche sich gar nicht richtig vorstellen können, wie in dem Rahmen Stimmung aufkommen soll, sind Autokonzerte für andere natürlich das letzte, was ihnen passieren würde. Wir schlagen vor, dass Letztere ihre Autos denen zur Verfügung stellen, die kein eigenes und somit keine Chance, aber unfassbare Lust auf einen Abend mit Autokonzert oder -kino haben. Solidarität, Ihr wisst schon! Bis zu vier Personen aus zwei Haushalten dürfen übrigens im (pro PKW bezahlten) Wagen sitzen.
Gänsehaut stellt sich ein
Es wäre tatsächlich überraschend, wenn einer der heutigen Besucher schlechtgelaunt den Pflastersaal verlassen hätte. Terry Hoax sind auf den Punkt und so dauert es keine drei Akkorde, bis das Hupverbot außer Kraft gesetzt und wilder Lichtapplaus spendiert wird. Viele der Anwesenden freuen sich darauf ihre Lieblingsband zu sehen und andere wollen einfach Teil dieser Sache sein. Das Erleben, was man sich gar nicht gut vorstellen kann und was man nie erwartet hätte.
Durch die geöffneten Fenster hört man das Publikum grölen. Hände und Fäuste schnellen aus den Dach- und Seitenfenstern in die Luft und das rollende Volk demonstriert merklich, wie Text- und Stimmsicher es auch hinter Blech ist – spätestens bei „Live All“, aber besonders auch bei „The Best Is Yet To Come“ lässt das keinen mehr kalt und Gänsehaut stellt sich ein. In den Autoschluchten schnappt man immer wieder euphorische Kommentare zwischen „Das macht so Spaß“ und „Boar, das ist richtig gut“ auf. Die Stimmung steigt jede Sekunde. Man winkt sich von Auto zu Auto zu, strahlt über beide Ohren und versucht so, über das Funkeln in den Augen, dieses Erlebnis zu teilen und Kontakt herzustellen. Das funktioniert ganz gut. Vielleicht ist es die ungewöhnlich lange Durststrecke, vielleicht aber auch der Zauber der Livemusik.
Bildergalerie: Terry Hoax
[supsystic-gallery id=451]Jogginghosen und Schlabber-Pullis
Perau scheint das zu spüren und so zieht es ihn immer wieder von der Bühne Richtung Motorhauben. Er begutachtet das mitgebrachte Picknick der Fans, posiert auf deren Karossen, holt sich gegen die Scheiben gestreckte Daumen ab und tanzt, wie ein Derwisch durch die Reihen. Einige Autos sind sogar mit Merchandise der Band geschmückt. Besonders Alex und Astrid aus der ersten Reihe stechen mit ihrem sympathisch, nostalgischen Golf hervor. Terry Hoax honorieren das und erzählen dem Rest, wie gern sich ihre Fans bewegen: „Astrid, wir haben Euch vermisst!“ Wenn der Musiker vor der eigenen Motorhaube auftaucht, fühlt es sich sogar ein wenig nach Privatkonzert an.
„Für Hannover ist das gerade jetzt eine echte Bereicherung!“
Steht man direkt vor der Bühne, kann man gerade so die Instrumente hören. Es gibt keine PA-Anlage im gewöhnlichen Sinne. Der Sound wird über das Autoradio transportiert und ist so satt, wie schon lange nicht mehr. Auf dem ganzen Platz sind Leinwände verteilt, worüber die Musiker aus allen Richtungen gestochen scharf übertragen werden, aber auch der Blick auf die Bühne ist einwandfrei. Wenn die Band also, wie beim Song „Another Face“, Lichthupe fordern, taucht das Publikum den Freilichtkinosaal in ein Blechbüchsenstrobo, das auch den härtesten Rocker sentimental werden lässt. Schon ist es da, das Gemeinschaftsgefühl, das in diesem Jahr alles andere bedeutet, als das dem Kleinsten im Pit eine schwitzige Achsel über das Haupthaar wischt. 2020 sind an einem Sonntagabend (ganz unter uns) sogar Jogginghosen und Schlabber-Pullis im Auto legitim.
Es ist gut, sich an die aktuellen Bestimmungen zu halten
107 Tage hat die Band nicht gemeinsam musiziert. Das fällt absolut nicht auf. Während sich der Frontmann immer wieder bei allen Beteiligten bedankt und seinen Fans so nah kommt, wie es eben im Moment geht, bezeugt er spaßend die freundschaftliche Kollegialität mit Fury In The Slaugtherhouse gegenüber dem anwesenden Kai Wingenfelder. „The Best Is Yet To Come“ geht raus an die Kollegen aus der Landeshauptstadt, die am 14. und 15. Mai den Schützenplatz übernehmen. Der Freitag ist bereits ausverkauft.
Auch Terry Hoax werden Ende Juli wiederkommen und wenn es nach Pelau geht, können die Fans bis dahin direkt stehenbleiben. Hits wie „Hot Heyday“, „Rubbish Colours“ und das Depeche-Mode-Cover „Policy of Truth“ werden sie auch dann im Gepäck haben. Für heute schlängeln sich die Terry Hoax Fans nach knapp zwei Stunden Live-Erlebnis und einem krönenden Abschluss mit „Waterland“ sehr geordnet und gut gestimmt vom Platz.
Und während unsere geliebte Nähe 2020 zur wohl gefährlichsten Waffe und Distanz die größte Liebesbekundung unserer Zeit geworden ist, positioniert sich auch Oliver Pelau ganz klar, wenn er proklamiert, dass es gut ist, sich an die aktuellen Bestimmungen zu halten, damit der ganze Spuk bald wieder vorbei sein kann. Wir wünschen uns definitiv das schwitzige Live-Konzert-Erlebnis zurück und natürlich viel mehr Konzerte aus der Subkultur; halten es für den Moment aber mit den Worten Belit Onays, dass Autokonzerte (in der Besonderheit der aktuellen Zeit) eine echte Bereicherung sind.