Ein bisschen schwer fiel ihm der Abschied am heutigen Mittwochmorgen schon. Und das ist verständlich. Welcher Elternteil möchte schon den zweiten Geburtstag des eigenen Sohnes verpassen? Dan Campbell eigentlich weniger. Aber die Pflicht ruft, sagen knapp 1400 Fans, die sich für den Weg ins Ogden Theater entschieden haben. Optionen für den heutigen Abend in Denver gibt es endlose – Dave Hause, Comeback Kid, Chris Farren, The Used oder Stick To Your Guns spielen alle im Umkreis von wenigen Autominuten. Aber Wegbegleiter von The Wonder Years sind anders. Emotional verbunden. Dedicated. Und der Großteil nicht erst seit gestern. Während Besucher:Innen den Weg in das verzierte Theater finden, gibt es endlose Logotattoos und Merchandise der letzten 12+ Jahre zu bewundern.
Wir haben uns viel Mühe mit dem Line-up dieser Tour gegeben. Für uns verkörpern diese Bands die Zukunft unserer Szene und unserer Generation. Und wir alle wissen: The Wonder Years stehen nach all den Jahren dem Ende der Band näher als dem Anfang.Dan Campbell
Zehn Jahre “The Greatest Generation”
Zehn Jahre “The Greatest Generation” sollen 2023 gefeiert werden. Genauso lange, wie das vierte The Wonder Years-Album gibt es aus Action/Adventure aus Chicago, die den Abend eher zurückhaltend eröffnen. Der Fünfer punktet zwar mit sympathischen Ansagen und Elan, schafft es aber nur in wenigen Momenten, den Raum mit der mitgebrachten Poppunk-Energie anzustecken. Anders beim Geheimtipp Sweet Pill aus New Jersey und Philadelphia: Zayna Yuossef hüpft und kreist pausenlos über die Bühne, die Melodie- und Rhythmusfraktion stellt den Saal dreißig Minuten lang mit Emoriffs und Mathrock auf den Kopf. Nicht nur die ersten Reihen feiern den abwechslungs- und trickreichen Sound, der irgendwie das perfekte Pendant zum schlicht zu luftigen Sound von Action/Adventure ist, ausgelassen. Nicht zuletzt dank Youssef’s beinahe schizophrener Stimme, schrauben Sweet Pill das Stimmungsbarometer ein gesundes Stück nach oben.
Samiam’s Erbe
Anxious stammen eigentlich aus Connecticut, haben aber seit dem Release von “Little Green House” gefühlt vielleicht eine Woche im eigenen Bett geschlafen. Die Hardcoreband, die eigentlich Popmusik spielt (oder andersrum?!), weiß ihr Publikum mittlerweile um den Finger zu wickeln. „Ob ihr schon mal von dieser Band namens “Anxious” gehört habt oder nicht, spielt keine Rolle. Ob ihr die Texte kennt oder nicht, spielt keine Rolle. Das hier ist eure Chance, diesen Abend in guter Erinnerung zu behalten. Move!“ Vor allem Sänger Grady Allen und Gitarrist Ryan Savitski machen es Denver pausenlos vor. Die Lyrics von “In April” oder “More Than A Letter” schallen laut und textsicher zurück Richtung Bühne und auch wenn Anxious live ganz sicher besser ohne Barrieren und Distanz funktionieren, lässt sich Allen das verdiente Bad in der Menge zum Finale von “Growing Up Song” nicht nehmen. Um den Nachwuchs und das Erbe von Texas Is The Reason, Samiam und Co. muss man sich dank Bands wie Anxious keine Sorgen machen.
Umarmungen, Tränen, Moshpits & Bierduschen
„Mir ist erst vor Kurzem bewusst geworden, dass vereinzelte Mitglieder der Band Anxious gerade einmal drei Jahre alt waren, als wir vor achtzehn Jahren angefangen haben Musik zu machen.“, erzählt Dan Campbell. Mit seinem rötlichen Bart und der ins Gesicht gezogenen Kappe – unscheinbar wie immer – ist er sichtlich gerührt. Gerührt, weil Denver nach all den Jahren noch so zahlreich und verlässlich auftaucht und ab Sekunde eins in einer Lautstärke mitsingt, die bisher beim Blick in das randvolle Venue kaum zu erahnen war. Ab „There, There“ startet Campbell mit Ansätzen von scherzhaft bis erschreckend seine Definition der
“Greatest Generation” zu erläutern. „Wir haben uns viel Mühe mit dem Line-up dieser Tour gegeben. Für uns verkörpern diese Bands die Zukunft unserer Szene und unserer Generation. Und wir alle wissen: The Wonder Years stehen nach all den Jahren dem Ende der Band näher als dem Anfang“. Klar kann ein Poppunksong auch von der ersten großen Liebe handeln, bei The Wonder Years aber finden genauso ernsthafte und persönliche Themen Einzug in die Texte. Ein Blick durch den Saal während “Passing Through A Screendoor”, “Dismantling Summer” oder “Teenage Parents” sorgt für handfeste Beweise: Umarmungen, Tränen, Moshpits und Bierduschen zollen den dreizehn Songs Respekt, dazu gibt der Philadelphia-Sechser vor der 3D-Kulisse des Albumartworks alles.
Kerbe der ewigen Jugend
“The Devil In My Bloodstream” wird mitsamt Piano und Vocal-Support von Youssef abgeliefert und natürlich steht schon lange vor der Reprise-Ballade “I Just Want To Sell Out My Funeral” fest, dass The Wonder Years noch nicht in die Katakomben des Ogden Theaters entlassen werden können. “Es ist vielleicht etwas arrogant das zu behaupten, aber diese Band ist 2023 besser als jemals zuvor“ bestätigt Campbell und spricht nach dem Release vom 2022er “The Hum Goes On Forever” wahre Worte. Nach kurzem Luftholen und Abklatschen mit alten Bekannten und Wegbegleitern backstage kehren The Wonder Years zurück, um die knapp 90 Minuten Spielzeit vollzumachen. “Low Tides”, “Came Out Swinging” “Cardinals” und das Outtake “Goddamnitall” schnitzen gekonnt weiter an der Kerbe der ewigen Jugend, obwohl graue Haare und Existenzängste Skateboards und Kellerclubs erfolgreich abgelöst haben. Oder haben sie das? Das Blut puckert, die Stimmbänder schmerzen. So gut war und ist „The Greatest Generation“ auch zehn Jahre später. Und: The Wonder Years waren nie besser als am heutigen Abend, 18 lange Jahre nach ihrer Gründung. Soupy’s Sohn wird ihm verzeihen, am heutigen Morgen in ein Flugzeug Richtung Denver gestiegen zu sein.