Seit 25 Jahren steht der Name ALARMSIGNAL für kompromisslosen Deutschpunk. Mit ihrem neunten Studioalbum “Insomnia” liefern sie das bislang eindrucksvollste Werk ihrer Karriere, das die Krisen und Widersprüche der Gegenwart aufgreift und dabei, vielleicht gerade deswegen, so kraftvoll und relevant klingt. Nach dem Chart-Erfolg von “Ästhetik des Widerstands”, das 2022 Platz 20 der deutschen Charts eroberte, geht die Band mit “Insomnia” den eingeschlagenen Weg weiter, erweitert jedoch ihren musikalischen und thematischen Horizont. Der Wechsel von Borsti zu Tom an der Gitarre im Jahr 2022 ist deutlich zu Hören, doch ALARMSIGNAL bleiben experimentierfreudig, ohne ihre Wurzeln und Authentizität zu verraten.
Schlaflos in einer chaotischen Welt
Der Titel “Insomnia” könnte treffender nicht sein – er fängt die schlaflosen Nächte ein, die viele von uns in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Umbrüche quälen. Bassist und Sänger Steff fasst es in seiner unmissverständlichen Art zusammen: „Auf politischer und sozialer Ebene raubt uns vieles den Schlaf: die Dummheit, die Ignoranz, der Egoismus, der Hass und die Rückwärtsgewandtheit der Menschheit. Statt aus der Vergangenheit zu lernen, driftet Europa immer weiter nach rechts. Rechtsextreme Rhetorik und Hasskommentare sind salonfähig geworden, in Politik und Gesellschaft, in den sozialen Netzwerken – geprägt von Rassismus, Antisemitismus, Fakenews und einem gefährlichen Sexismus.“ Diese alles durchdringenden Themen ziehen sich, wie ein düsterer, roter Faden, durch die zwölf neuen Tracks von “Insomnia”, die nicht nur Frustration über den Zustand der Welt widerspiegeln, sondern auch die Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Widersprüchen thematisieren und dabei versuchen, das gedankliche und emotionale Chaos zu ordnen.
Musikalische Vielfalt und kreative Herangehensweise
Ein perfektes Beispiel für die musikalische Bandbreite von “Insomnia” ist “Neonlichter” – ein Track, der mit treibenden 808-Beats und düsterer Atmosphäre ungewohnte, aber faszinierende elektronische Wege einschlägt. Crossover trifft es wohl mehr, denn neben den pulsierenden Synthesizern, findet sich auch eine ordentliche Portion Sprechgesang, der den Song irgendwo zwischen urbaner Kälte und rebellischer Wut verortet. Soundtrackpotenzial? Definitiv. Gleichzeitig flirtet der Song stark mit alternativen Klängen – mutig, vielleicht polarisierend, aber gerade deshalb spannend.
Das Album entstand während einer kreativen Auszeit an verschiedenen Orten – von einem abgelegenen Häuschen mit See, über ein Landhaus im Wald, bis hin zu einem Appartement hoch über den Dächern Hannovers. Mit dem mobilen Studio ihres neuen Gitarristen Tom legten sie innerhalb von zwei Wochen die Grundlagen und in den Überlärm Studios mit Manuel Renner entwickelten sie frische Ideen und eine neue Flexibilität bei der Aufnahme. Besonders spannend war dabei die Entscheidung, das Schlagzeug zuletzt aufzunehmen – eine Methode, die den Songs noch mehr Dynamik verleiht. Der finale Mix in den Rock or Die Studios mit Michael Czernicki brachte schließlich die perfekte Balance zwischen neuen Ansätzen und bewährten Partnern, was dem Album eine beeindruckende Frische verleiht.
Texte, die bewegen
Die Texte auf “Insomnia” sind nicht nur wütend, sondern auch durchdrungen von Empathie und Nachdenklichkeit. Ein absolutes Highlight ist „Rest your eyes“. Der Song beginnt sanft, fast tröstend – doch die Geschichte, die sich dahinter verbirgt, ist nichts weniger als erschütternd. Gemeinsam mit Sebastian Madsen erzählen ALARMSIGNAL die wahre Geschichte des 15-jährigen, sehbeeinträchtigten A., der 2017 aus Syrien floh. Auf der Flucht war es seine ältere Schwester, die ihm immer wieder auf Arabisch zuflüsterte: „You will be safe to rest your eyes.“ Ein Satz voller Hoffnung in einer Welt, die nichts als Grausamkeit für die beiden übrig hatte. Die Melodie trägt diese Mischung aus Dringlichkeit und Zerbrechlichkeit, die einem die Kehle zuschnürt. Gänsehaut, Tränen – weil es nicht nur ein Lied ist, sondern Realität. Weil diese Teenager unfassbar stark sein müssen, weil Resilienz über Leben entscheidet – und weil es einfach zum Kotzen ist, dass Songs, wie dieser, nicht bloß fiktive Mahnmale sind, sondern die bittere Wahrheit über eine Menschheit, die immer wieder versagt.
“D’accord” landet mitten im emotionalen Chaos und fühlt sich an, als hätte man die Essenz der eigenen Punk-Sozialisation in zwei Zeilen destilliert. Ein bisschen alte Hosen, eine Prise Dritte Wahl – und dann ist da noch Mel Marker, die mit FLINTA-Power alles gnadenlos nach vorn peitscht. Schwer zu beschreiben, ohne Gefahr zu laufen, beim nächsten Nordstadt-Spaziergang für den Vergleich gevierteilt zu werden – aber mein 13-jähriges Ich rastet aus vor Freude.
Deeptalk
Doch während das innere Kind feiert, dürfen wir nicht die vergessen, die längst nicht mehr feiern können. Die, die sich mit letzter Kraft an einem brüchigen Strohhalm klammern. Die, für die diese Welt – wie in “Scherbe/Licht” – viel zu schwer geworden ist. Die, die schweigend schreien, dass es nicht das Leben ist, das sie erdrückt, sondern seine Menschen – geprägt von Ignoranz, Arroganz und Missgunst. Es ist an uns, genau hinzusehen, bevor sie an uns vorbeiziehen ohne, dass wir es merken. Bevor sie allmählich an dem zerbrechen, was sie uns nicht zeigen können, weil wir vielleicht zu wenig davon sehen wollen.
Alarmsignal feuern nicht einfach nur Ansagen raus – sie brennen ein verdammtes Fanal gegen Ungerechtigkeit in diese Welt. “Manifest”, unterstützt von Beckx (FCKING ANGRY*), ist ein wütender, unmissverständlicher Angriff auf das Patriarchat, auf Sexismus und Machokultur – auch in der eigenen Szene. Sehe ich da etwa alte, weiße Punkertränen? Oh ja, vielleicht bringt das den ein oder anderen der hiesigen Punkergarde ins Grübeln. Denn genau darum geht es: Auch du kannst es besser, denn „nur, weil es schon immer so war, heißt das nicht, dass es so bleiben muss“!
“Deutsch mich nicht voll” knallt als wilder, ungestümer Vorbote des Finales hinterher – ein Track, der alles mitbringt, was ein guter Punk-Song braucht: Chöre, „Hey Hey Heys“, ein Geschrei, das direkt in die Blutbahn geht und Chris Kotze von Kotzreiz. Genau diese Mischung aus gesellschaftspolitischen Statements und persönlicher Wut macht “Insomnia” so verdammt spannend. Hier wird nicht nur aufgerüttelt. Wer sich nicht nur berieseln lässt, sondern wirklich eintaucht, wird von diesem Album unweigerlich mitten ins Herz getroffen. Doch dazu später mehr – denn genau dort trifft auch “Johanna”. Fast wirkt es, als hätten wir es mit Schrödingers Johanna zu tun – sitzt sie wirklich auf der Bank vor dem Haus oder ist sie eine Metapher der Verträglichkeit? Zwischen den Metaebenen des Wahnsinns und dem alltäglich notwendigen Atmenzählen balanciert dieser Song auf einem schmalen Grat. Für mich ist Johanna kein Name, sondern ein Gefühl – mein eigenes, alltägliches Bewusstsein, meine innere Haltung und die Entscheidung, niemals zu schweigen. Eingefangen in einer Melodie, die sich anfühlt, wie rosa Zuckerwatte und so heimelig warm riecht, wie der Duft von gerösteten Maronen in den engen Gassen Barcelonas im Herbst. Ein flüchtiger Moment zwischen Melancholie und Hoffnung, zwischen dem warmen Glimmen einer Laterne und der unbändigen Wut, die in der Brust lodert – leise, aber unaufhaltsam.
Ein Ventil für Emotionen
Es hat eine Weile gedauert, bis mir klar wurde, dass “Insomnia” tatsächlich wie ein offenes Tagebuch ist. Das Ebenbild der inneren Zerrissenheit und der chaotischen Gedanken, die sich bei jedem von uns aufstauen. „Wie jedes Album ist “Insomnia” ein Spiegelbild unserer Seele, unseres Kopfes und unseres Herzens“, sagt Gitarrist Bulli, und anfangs dachte ich, „Na klar, papperlapapp, das sagt ja eh jede Band!“ Doch beim Hören, beim Eintauchen in diese elf Songs, merkte ich: Es ist mehr als nur ein Spruch. Diese Songs sind ein Handreich zu allem, was uns heute bewegt – von der Wut auf die Welt über die Traurigkeit über das, was wir verloren haben, bis hin zu einer letzten Hoffnung, das Chaos irgendwie zu ordnen.
Und dann kam dieser Donnerstag im Januar, als der Release immer näher rückte. Drei Stunden vor der Veröffentlichung und ich sitze da, schreibe, lösche, überarbeite und springe von Zeile zu Zeile.
Stopp!
Ich bin allein zu Hause, das Licht gedimmt, sitze auf meinem grünen Cordsofa, zugedeckt, während draußen der Winter nicht nur im übertragenen Sinn zuschlägt. Die ersten Rillen der Schallplatte drehen sich, und dieses vertraute, warme Knacken – ein Geräusch, das fast nur Schallplattenenthusiast:innen kennen – holt mich sofort ab. Die Musik beginnt zu fließen, und ich treibe mit. Keine großen Gedanken, nur kleine Notizen, die sich spontan einfügen. Unbewusst habe ich mich von diesem ständigen Konsumrausch, diesem endlosen Strom von Reizen und Informationen, befreit. Heute Nachmittag schrieb ich Archi, dass „Rest your eyes“ mich jedes Mal zu Tränen rührt. Jedes Mal, wenn der Refrain einsetzt, trifft mich diese Mischung aus Wut und Hoffnung – ein Gefühl, das in einem Moment alles andere überlagert. Aber das war nur der Anfang. Jetzt, drei Stunden vor dem Release, dreht endlich das pissgelbtransparente Vinyl und in mir tanzen alle nur vorstellbaren Gefühle Ringelrein – Wut, Sehnsucht, Erschöpfung und Hoffnung. Es ist, als würde ich mit inneren Dämonen kämpfen und sie am Ende ganz sanft und in Watte gepackt zur Ruhe legen. “Insomnia” hat mich erwischt, mitten im Herz und um mich selbst zu zitieren: “Insomnia läuft – und in zwei Plattenlängen habe ich geweint, gelacht, innerlich und äußerlich gewütet, mich aufgeregt, gewundert und überraschen lassen. Ein bisschen Angst hatte ich auch – vor der Gesellschaft da draußen und vor meinem nächsten Spaziergang durch die Nordstadt. Aber genau das macht dieses Album so stark: Es holt all die ab, die sich von dieser Welt überrollt fühlen, die zwischen sozialem Chaos und persönlicher Überforderung nach Halt suchen. Wenn man sich „Insomnia“ wirklich öffnet, dann heilt es – nicht, weil es Antworten liefert, sondern, weil es verbindet. Es trifft mitten ins Herz, wirft einen durch alle primären Gefühle und hinterlässt das bittersüße Gefühl von Katharsis.
Fazit
Warum keine 5/5? Vielleicht fehlt “Insomnia” an manchen Stellen der letzte musikalische Überraschungsmoment, der das Album von „stark“ zu „legendär“ katapultieren würde.