Fast drei Jahre sind seit dem letzten Anti-Flag Album “20/20 Vision” vergangen – ein Album, was (zumindest live-technisch) etwas untergegangen ist, obwohl es eins der besten der jüngsten Anti-Flag-Geschichte ist. Nun kommt mit “Lies They Tell Our Children” das schon dreizehnte Album der mittlerweile fast 30 Jahre alten Band aus Pittsburgh, PA.
Nah am Zahn der Zeit
Anti-Flag war und ist schon immer eine Band, die – sei es politisch, musikalisch oder kulturell – so nah am Zahn der Zeit ist, wie kaum jemand anders im Punkbusiness. Da überrascht es auch kaum, dass sie mit der Veröffentlichung von “Lies They Tell Our Children” auch moderne Wege gehen, die viele nostalgische Punk-Bands eben nicht gehen: Bis zum Release des neuen Albums haben sie bereits sechs Singles ausgekoppelt – wenn Presswerke ewig brauchen, um physische Alben an den Start zu bringen, dann eben so. Auch das ist der Erfahrung von “20/20 Vision” geschuldet, denn „pandemiebedingt“ waren die meisten Songs für die Band schon fast zwei Jahre draußen, als sie sie endlich ausgiebig live spielen konnten. Ein beschissenes Gefühl für Musiker:innen, denn meistens sind die Songs sowieso schon ein Jahr aufgenommen, bis das Album kommt und fühlen sich da schon nicht mehr “neu” an. Bei der ersten Single “Laugh.Cry.Smile”, die sie zusammen mit Shane, dem Sänger von Silverstein rausgebracht haben, waren es nur ein paar Wochen zwischen dem Ende der Aufnahmen und dem Release. Ein kluger Schachzug also.
Das erste Anti-Flag Konzeptalbum
Wer sich die Tracklist anschaut, wird noch eine weitere Besonderheit feststellen: Sie liest sich fast wie die Tracklist eines Rap-Albums, so viele Features wie darauf enthalten sind. Auch das ist “modern”, denn gerade im umkämpften Streaming-Zeitalter erreicht die Band so nicht nur ihre eigene Fanbase mit dem Song, sondern direkt auch die des Feature-Gastes. Das ist in Rap-Kreisen längst selbstverständlich, doch Chris #2 und Justin Sane, zwei der Köpfe hinter Anti-Flag betonen, dass das nicht die Hauptintention war. Während der Pandemie haben sie gelernt, remote miteinander Songs zu schreiben, an Skizzen zu arbeiten und Demos aufzunehmen. Dabei kam die Idee, den Kreis einfach zu erweitern und sich einfach Freund:innen aus der ganzen Welt zum Projekt “Lies They Tell Our Children” dazu zu holen. Dazu zählen neben Silverstein unter anderem auch Die Toten Hosen, Bad Religion, Rise Against, Killswitch Engage, Bad Cop / Bad Cop und Pinkshift. Heraus kam das erste “Konzeptalbum” der Band Anti-Flag.
Eine historische Forschungssammlung
“Lies They Tell Our Children” ist so etwas wie eine historische Forschungssammlung der Band zur Entstehung von Themen wie Klimakatastrophe, dem verkorksten amerikanischen Gesundheitssystem und korrupter Politik. Sie suchen nach der Wurzel des jeweiligen Übels, um daraus zu lernen und Handlungsoptionen für die Zukunft aufzuzeigen. Etwas, was auch in der Geschichte von Anti-Flag bisher einmalig ist. Wenig überraschend ist dabei das Ergebnis: Die meisten der erwähnten Missstände sind darauf zurückzuführen, dass der Profit einiger weniger Menschen über dem Gemeinwohl oder dem Wohl der Schwächsten der Gesellschaft steht.
Raus aus der Comfort-Zone
Musikalisch ist das Album vielleicht das vielseitigste der Band und während man den Ansatz verstehen kann und die Platte auf jeden Fall einem roten Faden folgt, wird gerade das vielen nicht gefallen. Gerade durch die diversen Gast-Vocals entfernt sich Anti-Flag hier und da schon gewaltig aus ihrer eigenen Comfort-Zone. Aber das ist okay – wenn man sich vergegenwärtigt, dass das große Vorbild der Band schon immer The Clash war, denen zwei, auch nur im Ansatz, ähnliche Alben schon zu viel waren. Demzufolge ist “Lies They Tell Our Children” ein Album, auf das man sich einlassen muss, was aber durch die Vielfalt sicher ein paar neue Leute dazu bewegen wird, sich mit der kompletten Diskographie der Band auseinanderzusetzen und das allein ist ja schon ein gigantischer Erfolg, denn wenn mehr Leute Anti-Flag hören und ihre Messages beherzigen, ist die Welt ein besserer Ort.