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Anti-Flag, Silverstein, Cancer Bats und Worriers in Hannover

Anti Flag am 16.10.2018 im Kulturzentrum Pavillon in Hannover

Foto: Hanna Hindemith

„Allen denen, die mich jetzt hören rufe ich zu: Ihr dürft nicht verzagen! Auch das bittere Leid, das über uns gekommen ist, ist vergänglich. Die Männer, die heute die Menschlichkeit mit Füssen treten werden nicht immer da sein. Ihre Grausamkeit stirbt mit ihnen und auch ihr Hass. Die Freiheit, die sie den Menschen genommen haben, wird zurückgegeben werden. Auch wenn es Blut und Tränen kostet, für die Freiheit ist kein Opfer zu groß.“

„The Final Speech“ aus Charlie Chaplins „Der große Diktator“ ist wohl eine der am meist genutzten Reden in der Welt des Punks und bildet mehr und mehr eine Institution für das Gemeinschaftsgefühl einer Generation, die mit großen Schritten, Arm in Arm vereint, auf eine Revolution zuläuft. Anti-Flag gehören zu den bedeutendsten Polit-Punk Bands unserer Zeit. Gemeinsam mit Silverstein, Cancer Bats und Worriers bespielt die Band aus Pittsburgh am Dienstag vor 800 Gästen den Pavillon in Hannover.

 

Allein die Location des Abends ist ungewöhnlich für die Szene und so trifft man schon an der Bahnhaltestelle den einen oder anderen suchenden Konzertbesucher. Die List ist halt nicht Linden, da muss man sich erstmal zurechtfinden. Dennoch ist der Pavillon vielleicht genau der richtige Ort für diese Show. Als Ort für alle kulturell, sozial und politisch interessierten Menschen in der Stadt und Region Hannover findet das offenen Haus der Kultur und Kulturen seine Wurzeln in der kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, den neuen sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre, der Frauenbewegung und dem Widerstand gegen Atomtechnologie, der Friedensbewegung und einem entwicklungspolitischem Engagement.

So druckvoll und gleichermaßen einfühlsam, wie Punk nur sein kann

Zu diesem gedanklichen Ansatz passen die vier Bands des Abends mehr als perfekt. Los geht es mit Worriers aus Brooklyn, New York. Die Band formt sich um die Frontfrau und Gitarristin Lauren Denitzio mit wechselnder Besetzung. Denitzio ist Teil einer neuen Klasse von LGBTQ-Songwritern, die sich dafür einsetzen, die oft isolierte Welt des Punkrock offener zu machen und für mehr Akzeptanz bei den Themen Geschlecht und sexuelle Identität kämpfen.

„Rassismus ist keine Alternative! Faschismus ist keine Alternative! Rassistische Cops sind keine Alternative!“

Beobachtet man die Band auf der Bühne, dauert es nicht lang, bis sich Ähnlichkeiten zu Against Me!´s Laura Jane Grace zeigen. Passend also, dass die US-Amerikaner das Debütalbum „Imaginary Life“ von jener produzieren ließen. So druckvoll und gleichermaßen einfühlsam wie Punk nur sein kann, geht es nach einer kurzen Begrüßung durch die ersten drei Songs. Zum „Yes All Cops“ meldet sich Gitarristin EM zu Wort. Sie versuche es auf Deutsch und leitet so ihre mehr als wichtige Ansage „Rassismus ist keine Alternative! Faschismus ist keine Alternative! Rassistische Cops sind keine Alternative!“ ein.

Ahornsirup verbindet unter dem Deckmantel der Dunkelheit

Nach einer kurzen Umbaupause, einem kurzen Schnack am Tresen oder im Raucherründchen wird es düster im Saal des Pavillons. Unter dem Deckmantel der Dunkelheit und einem „Key Master“ skandierendem Intro betreten die Cancer Bats die Bühne. Die kanadische Hardcore-Punk-Band ist ein gern gesehener Gast und vermutlich gibt es an diesem Abend einige Besucher, die primär für das Quartett aus Toronto gekommen sind. So unterschiedlich der Sound der vier Bands an diesem Dienstag ist, so sehr verbinden sie die unterschiedlichen Genreansätze der Punkszene.

„Fucking beautiful“

Nur wenige blaue und orangefarbene Scheinwerfer erlauben einen genauen Blick auf Liam Cormier und seine Band. Druckvoll presst das Energiebündel seinem Publikum Songs wie „Gatekeeper“ und „Hail Destroyer“ entgegen und fordert immer und immer wieder Circle Pits aus der bisweilen verhaltenen Menge. Besonders liebgewonnen scheint der Frontmann Begriffe zu haben, in denen ein „fuck“ auftaucht. So ist er sich nicht so richtig sicher, ob jemand seine Band kennen würde, aber „fucking excited“ am heutigen Abend mit seinen „motherfucking“ Cancer Bats bei so „fucking“ wunderschönen Menschen in Hannover zu sein.

Auch Anti-Flag mag Cormier, obwohl die keine Kanadier seien. Allerdings ist er sich sicher, dass sie ebenfalls Ahornsirup im Blut haben. Beim Beastie Boys Cover „Sabotage“ ist klar, dass die Cancer Bats ihren Warm-Up Job erledigt haben. Das Publikum ist erwacht und fackelt nicht mehr lang. Die letzte verbale Motivationsspritze des Frontmanns wird aus dem Publikum mit den Worten „Shut up and sing“ beantwortet. Der sich kurz darauf eröffnende Mosh Pit unterstreicht den Beginn eines großartigen Abends in einer mehr als netten Runde.

Klar und energiegeschwängert – eben 100% Silverstein

„Wenn ich sage, dass Ihr springen sollt, dann springt Ihr und wenn ich ‚Circle Pit‘ schreie, dann will ich verdammt nochmal Circle Pits sehen“, feuert Shane Told, Frontmann der kanadischen Band Silverstein, sein Publikum ohne langes Zögern an. Dass die fünf Musiker vom Nordufer des Lake Ontario nach fast zwei Dekaden musikalischen Schaffens handwerklich unfassbar eingespielt und versiert sind, beweisen sie in nahezu jeder Sekunde ihres einstündigen Sets. Es wird abgeliefert, wie man so schön sagt: klar und energiegeschwängert – eben 100% Silverstein. Songs wie „Afterglow“, „Smashed Into Pieces“ oder „Face Of The Earth“ schlagen ein, wie eine Bombe.

Wie auch die beiden vorhergehenden Bands bedankt sich Told immer wieder bei seinen Gästen. Er könne „Dankeschön“ jetzt auch richtig aussprechen, erklärt er schmunzelnd. Vorher habe er immer „Dankeshane“ gesagt, als wäre sein Name untergemischt gewesen. Auch für Silverstein ist diese Tour eine Besondere: „Es ist unheimlich aufregend, dass wir alles hier zusammenbringen konnten“, erklärt Told und führt fort „Anti-Flag habe ich das erste Mal in der High-School gesehen. Es ist echt cool, dass sich der Kreis jetzt schließt.“

„Heute sind wir alle aus ein und demselben Grund hier: Wir wollen einen gute Zeit mit einer Menge ehrlicher und handgemachter Musik haben. es ist völlig egal woher ihr kommt. Wichtig ist, dass wir an diesem Abend Ruhe vor dem ganzen Scheiß da draußen haben“

„My Heroin“- Chöre

Einen geschlossenen Kreis kann man im übertragenen Sinne auch auf der Bühne beobachten, als die Cancer Bats Röhre Liam seine kanadischen Kollegen auf der Bühne unterstützt. Aus dem Untergrund hat sich die Hard- und Emocore-Band fest verankert in der Szene etablieren können, auch, wenn sie, wie Told beschreibt, keine Punkband im engeren Sinne sei.

Punkrock sei allerdings die Basis für alles, was Silverstein ausmache: „Es ist das, an was wir glauben. Es ist völlig egal, welche Musik Du magst. Heute sind wir alle aus ein und demselben Grund hier: Wir wollen einen gute Zeit mit einer Menge ehrlicher und handgemachter Musik haben. Es ist völlig egal woher Ihr kommt. Wichtig ist, dass wir an diesem Abend Ruhe vor dem ganzen Scheiß da draußen haben“. Das Publikum belohnt direkt mit einer ordentlichen Portion Gänsehaut, denn als sich das bis dahin bewegungstechnisch durchaus wechselhafte Publikum zu einem einzigen „My Heroin“- Chor verwandelt, bleibt die Zeit für einen kurzen Moment stehen.

„Brüder und Schwestern, lasst uns eine gute Zeit haben!“

Als die Stimme Joey Ramones den „Blitzkrieg Bop“ durch die Boxen schickt, schließt sich neben dem nächsten Kreis auch das Set von Anti-Flag an. Die Ramones, also quasi der Prototyp des Punk, verdeutlichen die basalen Themen des Abends eindrucksvoll – Einheit, Gemeinschaft, Solidarität und eine gemeinsame Sache. All diese Begriffe finden sich tief verankert in der musikalischen Institution Anti-Flag. Das Bühnenbild zeigt Szenen aus Demonstrationen, welche die große Schere zwischen (zumeist friedlichem) Widerstand gegen ein System und die Reaktion der absoluten Polizeigewalt verdeutlicht. Nach einer einleitenden Rede gegen Krieg und Kapitalismus aus den Boxen, feuert der Vierer aus Pittsburgh passend „Die For Your Government“ in den Saal und Chris #2 begrüßt die Hannoveraner mit „Brüder und Schwestern, lasst uns eine gute Zeit haben!“

Das gibt uns das Bewusstsein, dass wir in diesen mehr als schwierigen Zeiten nicht allein sind, meine Freunde. Wir haben uns – und das ist verdammt nochmal eine ganze Menge!“

Eine Gemeinschaft, die füreinander einsteht

Nach „I Came. I Saw. I Believed.“ und „Broken Bones“ meldet sich auch Justin Sane zu Wort: „Wir sind Anti-Flag aus Pittsburg, Pennsylvania! Wir waren ein Weile nicht hier und Ihr gebt uns immer wieder eine Chance und kommt zu unseren Shows. Das macht uns dankbar. Ich kann Euch gar nicht sagen, was es für uns bedeutet, wenn wir auf die Bühne kommen und unsere Punk Rock Familie sehen, die gegenseitig aufeinander aufpasst und sich respektiert. Ich persönlich bin Teil des Punk Rocks geworden, weil ich festgestellt habe, dass diese Gemeinschaft füreinander einsteht und für die kämpft, die keine Chance haben, für sich selbst zu kämpfen. Die bereit ist ihre Stimme für die zu geben, die keine Stimme haben. Und es fühlt sich heute Abend für mich so an, als sollten wir diese Familie, die gegen Rassismus, Homophobie, Transphobie und Fanatismus, die für das Wohlergehen unseres Planeten kämpft, feiern. Das gibt uns das Bewusstsein, dass wir in diesen mehr als schwierigen Zeiten nicht allein sind, meine Freunde. Wir haben uns – und das ist verdammt nochmal eine ganze Menge!“

„Brüder und Schwestern, wir singen so laut, dass jeder Rassist, jeder Faschist, jedes verdammte AFD-Arschloch und Donald Trump tiefe Angst im Herzen spürt.“

Dass die Zeiten nicht rosig sind, zeigt allein die Flut an Songs, die Anti-Flag in den letzten Monaten veröffentlichten. Mit „Racists“ und „Fuck Police Brutality“ geht es nahtlos weiter und Sane und Dos wirbeln wie wahnsinnig über die Bühne. Justine Sane, der in den letzten Jahren am Mikrofon etwas in den Schatten Chris Barkers trat, wirkt heute so präsent wie schon lang nicht mehr. Ausgeglichen wechseln die beiden den Gesang und Redebeitrag oder vereinen ihre Stimmen.

Rebellion entsteht aus Hoffnung

Barker fordert die Mittelfinger des Publikums in der Luft und möchte zu „Turncoat“ und „Trouble Follows Me“ sehen, aus welchem Holz die Crowd geschnitzt ist. Im direkten Anschluss fordert der Bassist die Chöre auf die Tagesordnung: „Hannover, ich singe vor und Ihr macht mit – verkackt es nicht!“, kündigt er an. Nach einem ersten, unbefriedigendem Durchlauf verleiht er dem ganzen Nachdruck: „Brüder und Schwestern, wir singen so laut, dass jeder Rassist, jeder Faschist, jedes verdammte AFD-Arschloch und Donald Trump tiefe Angst im Herzen spürt. Macht einfach den allergrößten Circle Pit gegen diese Arschlöcher.“ „All Of The Poison, All Of The Pain“ und „The Criminals“ werden ausgelassen von den Fans der Band gefeiert.

Anti-Flag sind bekannt dafür sich auf allen möglichen Ebenen zu engagieren. Neben Kein Bock auf Nazis, der Hardcore Help Foundation und Sea Shepherd ist an diesem Abend auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International anwesend. Als Freunde der Band eingeladen, betreten sie die Bühne und werben für ihre Arbeit gegen Folter und für Folteropfer. Barker spannt den Bogen zum Titel „American Attraction“: „Sprecht die beiden auf ihrem Weg nach draußen an! Diese Gemeinschaft ist so viel mehr als Haarschnitte, Platten und Shirts oder Bands. Es geht um die Beziehungen, die wir in Momenten wie diesen eingehen. Denn daraus ziehen wir unsere Kraft. Daraus ziehen wir unseren Optimismus. Das ist das, woraus wir einfach alles ziehen“, bekräftig er seine Worte mit einer in die Luft gestreckten, fest geballten Faust.

Anti-Flag ohne Pat Thetic am Schlagzeug

Wenn Pat Thetic live das Schlagzeug zum Zittern bringt, ist er zu Beginn häufig ein wenig stürmisch unterwegs und etwas neben dem Takt. In der Redaktion gehört das zu den kleinen Anti-Flag Insidern, die uns nach einem kurzen Blickaustausch schmunzeln lassen. Dies bleibt heute aus. Der Schlagzeuger ist in Pittsburgh geblieben und erwartet sein erstes Kind: Das nächste Mal, wenn wir nach Hannover kommen“, freut sich Chris Dos, „sind vier Anti-Flag Typen fünf!“ Würdigen Ersatz stellt der recht neue Drum Tech Erik Pitluga.

„Lasst uns zusammen stehen! Lasst uns kämpfen für eine neue Welt, für eine anständige Welt!“

„Take it easy, but take it“, verabschiedet sich die Band zu dem Song „Dead Of A Nation“. Bevor es zu den Zugaben „When The Wall Falls“, „The Press Corpse“, „Drink Drank Punk“ und „Brandenburg Gate“ kommt und Chris #2 in den Pit steigt, ertönen, wie eingangs erwähnt, Auszüge aus der großen Rede Chaplins aus den Boxen: „Ihr als Volk habt es in der Hand, dieses Leben einmalig kostbar zu machen, es mit wunderbarem Freiheitsgeist zu durchdringen. Daher im Namen der Demokratie: Lasst und diese Macht nutzen! Lasst uns zusammen stehen! Lasst uns kämpfen für eine neue Welt, für eine anständige Welt! Die jedermann gleiche Chancen gibt, die der Jugend eine Zukunft und den Alten Sicherheit gewährt.“

Anti-Flag

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