Wir leben in einer Zeit, in der wir uns vermutlich mehr, als je zu vor über einschneidende politische, gesellschaftliche, aber vor allem auch existentielle Themen den Kopf zerbrechen. Dass das sauanstrengend ist, muss hier vermutlich nicht betont werden und spürt Mensch mehr denn je. Auch die Dropkick Murphys haben davon die Schnauze voll und veröffentlichen mit „Turn Up That Dial“ ein Album, dass ohne jeden Tiefgang einfach Spaß machen soll und sich somit auf die wesentliche Motivation der Musik beschränkt: Optimismus. „Wir hoffen einfach, dass [das Album] die Leute von ihren Problemen ablenkt.
imaginiert Euch in diese „Früher war alles besser“-Zeit – dann wird diese Platte zünden und die umarmende Sicherheit geben, dass irgendwann auch wirklich alles wieder besser werden kann!
Was für eine Misere
Manchmal ist das Schicksal ein mieser Verräter: 2020 hatte gerade begonnen, als die Musiker aus Boston den Song „Smash Shit Up“ veröffentlichten und sich kurze Zeit später auf den Weg nach Europa machten. Vielen werden die Abende in den Hallen unseres Landes unvergessen bleiben, da es für einige die letzte Show vor der Pandemie bedeuten sollte. Heute kann man wahrscheinlich sagen, dass wir diese Abende anders gefeiert hätten, wäre uns bewusst gewesen, in was für einer Misere wir einen Monat später aufwachen sollten. Nützt aber echt absolut nichts, denn jetzt heißt es nach vorn zu schauen und bei Laune zu bleiben.
Genau auf dem Ohr empfiehlt es sich nun den neuesten Murphys Longplayer zu hören und genau so funktioniert er auch – tief verbunden mit der Erinnerung an heiße, triefende Abende in kuscheligen Pubs. Vier Jahre nach dem Vorgänger „11 Short Stories Of Pain & Glory“ arbeiteten die Dropkick Murphys erneut mit Ted Hutt zusammen. Die elf neuen Songs zelebrieren die seit 1996 fein säuberlich, eigens erarbeitete Sparte zwischen Punkrock-artigen Wutanfällen und irisch inspirierten Folk-Melodien. Frei nach dem Motto:
„Get up, get out of those sweatpants you’ve been wearing for the last year…better times are ahead – LET’S F-IN’ GO!!”
25 Jahre Folk Punk für schlappe 30 $
Neben der elementarsten Funktion der Musik, beschäftigen sich die US-Amerikaner auch mit den Bands, die sie zu dem machten, was sie heute sind. Im Song „Mick Jones Stole My Pudding“ beschäftigt man sich dementsprechend mit einer Begebenheit, bei der der Clash-Gitarrist ein Dessert aus einem Studiokühlschrank entwendet hat und „L-EE-B-O-Y“ (ein echt starker Song) ist eine Hommage an den Dudelsackspieler Lee Forshner. Ken Casey erzählt über die Hintergründe des Albums, dass er vor 25 Jahren mit jemanden um 30$ wetten musste, dass er es nicht schaffen würde, innerhalb von drei Wochen eine Band zu gründen, die dann für dessen Band den Support spielen könne: „Als Kinder waren wir nie aus New England herausgekommen und jetzt sind wir hier – wir haben zehn Platten gemacht und waren überall auf der Welt. Wenn es eine Botschaft dieses Albums gibt, dann ist es ‚Heb die Faust und spiel laut‘.“
Die Dropkick Murphys tragen ihre Zuhörerschaft mit einer Reihe von Hymnen zwischen klassischen Folk-Punk Instrumentalisierungen durch das Album. Während der Titeltrack „Turn Up That Dial“ schon in der ersten Strophe mit den Zeilen „You’re my inspiration, you got something to say. Now turn up that dial ‚til it takes me away.“ die Hauptbotschaft der Platte transportiert, wütet Al Barr mit den Zeilen „I keep my fist raised up full-time against the world, sometimes for the family and sometimes for the girl. Yeah, you’d think I’d learn my lesson. I’m a man who’s been around but I could never keep that middle finger down“ durch das absolut selbstkritische „Middle Finger„. Wenn man dann also mal so richtig die Schnauze voll hat und die vergammelte Torte zwar ein schöner Gedanke, aber eine eher schwierige Lösung ist, liefert „H.B.D.M.F.“ eine großartige Geburtstagshymne für besonders gute Feinde.
In Gedenken an Woody Barr
Auf „Turn Up That Dial“ zeigt sich aber auch immer wieder, dass Wut nie ohne Liebe und einer eng verbundenen Traurigkeit gelebt werden kann, denn das neueste Album der Bostoner schließt mit dem bewegenden „I Wish You Were Here“, einer Hommage an Al’s verstorbenen Vater Woody Barr. Dafür fahren die Murphys in bester Tradition Akkordeon, Dudelsack und einem Trommelmarsch auf: „Al’s Vater war einfach ein unglaublicher Mann“, erklärt Casey.
„Er und Al hatten eine ganz besondere Bindung. Al beim Trauern um seinen Tod zuzusehen, war herzzerreißend. Er hat es durchgestanden, auch als wir wieder auf Tour gingen, weg von der Familie. Er hat seinen Kopf hochgehalten. Wir haben noch nie ein Album mit einem langsamen Song beendet, aber wir mussten es mit einer Verbeugung beenden, um Woody und so vielen anderen unseren Respekt zu erweisen. Es ist ein Moment, um innezuhalten und uns an diejenigen zu erinnern, die wir verloren haben, einschließlich der über 400.000 Menschen, die diesem Virus zum Opfer gefallen sind.“
In guten wie in schlechten Zeiten
„Turn Up That Dial“ möchte nicht gefallen, es möchte dazu beitragen in dieser irren Zeit auf die Beine zu kommen und erinnert an eine wilde und unbeschwerte Zeit. In guten und in schlechten Zeiten brauchen viele von uns diese Musik so unfassbar sehr. Sie schenkt uns Halt und Zuversicht und lässt uns für einen Moment vergessen. Oder sie weckt eben diese Erinnerungen die Nähe und Zugehörigkeit spenden. Nehmt also „jeglichen Anspruch“ an das perfekte Murphys Album raus und imaginiert Euch in diese „Früher war alles besser“-Zeit – dann wird diese Platte zünden und die umarmende Sicherheit geben, dass irgendwann auch wirklich alles wieder besser werden kann! Versprochen!