Es wird langsam kälter, das Laub fällt von den Bäumen, die Tage werden kürzer… und man fängt an wehmütiger zu werden und das eigene Leben zu reflektieren. Den passenden Soundtrack dazu liefern JIMMY EAT WORLD mit ihrem neuen und mittlerweile neunten (!!!) Studioalbum namens „Integrity Blues“. Allein schon das Wort „Blues“ lässt vermuten, dass hier keine Jubel-Trubel-Heiterkeit-Scheibe vorliegt, sondern höchstwahrscheinlich düster und sehr melancholisch dahergekommen wird.
Bei den ersten Tönen des Openers „You With Me“ erkennt man unweigerlich die Handschrift der Männer aus Mesa, Arizona. Allein der Refrain ist dermaßen catchy, dass dieser direkt schon lange im Ohr bleibt. Dazu kommt die unverwechselbare Stimme von Jim Adkins, die so unglaublich viel zur Atmosphäre des Songs beiträgt, dass man die Ratlosigkeit und Hilflosigkeit förmlich fühlen kann, wenn er die Zeilen „What makes our love so hard to be? Is it you, or is that you with me?“ singt. Es ist wieder da, dieses Gefühl dieser schönen Melancholie, die man auf den letzten Alben von JIMMY EAT WORLD doch etwas vermisst hat (von einigen Ausnahmen wie beispielsweise „I Will Steal You Back“ mal abgesehen).
Doch woher kommt diese neue und starke Melancholie? Jim Adkins hat kurz vor Veröffentlichung des neuen Albums einen Brief veröffentlicht, der „Integrity Blues“ ziemlich gut auf den Punkt bringt. „Your enemy is you“ schreibt er hier und das hört und fühlt man auch in den Songs der neuen Platte, sei es im Song „Get Right“ die Zeile „Never good time, never feel the space to get it right“ oder im zweiten Song des Albums „Sure and Certain“ die Zeilen „The clever ways i try to change happen and pass leaving me the same“.
Wo wir grad bei „Sure and Certain“ sind: Der Song ist dermaßen gut geschrieben und arrangiert, dass man ihn immer mal wieder (auch vielleicht unbewusst) vor sich hinsingt (wer noch einen Ohrwurm braucht, kann ihn sich hier holen). Genau das machen JIMMY EAT WORLD aus und deswegen lieben wir sie auch so: Große Songs und große Gefühle! Aber: Der beste Song auf dem Album ist er nicht, obwohl er schon nah dran ist… aber dazu später mehr.
Weiter schreibt Jim Adkins in seinem Brief (den ihr übrigens hier in Gänze nachlesen könnt) „Doing your best to accept and live as a person in-progress doesn’t mean you are going to always be happy. Staying on the best path you can may feel like lonely work sometimes. But then, happiness is one of those fleeting finish lines”. Man kann nur erahnen, mit was Jim Adkins sich in letzter Zeit rumplagen musste, aber der namensgebende Titel-Track des Albums „Integrity Blues“ vermittelt wahrscheinlich ziemlich gut, in was für einer Gefühlslage er sich in letzter Zeit befand: „I wish i could hold, i wish i could touch, but a fool just wants and wants“ singt er hier und es hört sich so an, als ob man bei einem ganz intimen Moment live dabei ist, ja fast wie ein heimlicher Zuhörer. Sein Gesang klingt so, als ob er meterweit vom Mikrofon weg ist und er vielleicht sogar gar nicht mitbekommt, dass hier grad irgendwer mithört oder mitschneidet. Wer weiß, vielleicht ist das sogar ein einziger Gesangs-take, der hier aufgenommen wurde, denn so unglaublich ehrlich und verletzlich hat man Jim Adkins wahrscheinlich noch nie gehört. Dazu das Streichensemble, was hier einen schönen melancholischen Melodieteppich hinlegt und schwupps hat man an jedem Quadratmillimeter seines Körpers Gänsehaut. Einfach unbeschreiblich schön und definitiv der beste Song des Albums.
Aber JIMMY EAT WORLD schaffen es auf ihrem neunten Album, auch mal wieder Grenzen neu auszuloten und neue musikalische Gebiete zu betreten. Alles ist streckenweise etwas düsterer gehalten, als man es sonst von der Band kennt. Gern wird das Schlagzeug auf Grund-Beats reduziert oder der Bass wabert im diffusen Sound durch den Song. Dabei wird der Song an sich aber nie aus den Augen gelassen und alles fügt sich sehr gut zusammen.
Auf die Spitze getrieben hat es der Vierer mit dem Song „Pass The Baby“: Elektro-Beats und leichte Synthies führen zusammen mit Jim Adkins Stimme durch die ersten Minuten des Songs, die dann in einem von der Band gespielten sehr melodisch und ruhig getragenden Instrumental-Teil übergehen. Bis jetzt an sich zwar für JIMMY EAT WORLD-Verhältnisse relativ ungewohnt aber noch nicht gänzlich spektakulär, aber der Song ist noch bei weitem nicht zu Ende. Auf einmal hört man Gitarren-Gefiepe und -Rauschen und ehe man sich versieht befindet man sich in einem Progressiv-Rock-Part der Extraklasse, den man so definitiv nicht erwartet hätte, sich aber trotzdem ziemlich gut in den Song einfügt.
JIMMY EAT WORLD ist ja (leider, muss man hier sagen) eine Band, die immer an den sogenannten Über-Alben „Clarity“ und „Bleed American“ gemessen werden. Wenn man hier einen Vergleich dieser Alben zum neuesten Werk der Band anstellen würde, wäre das in etwa so, als ob man Salami mit veganem Brotaufstrich vergleichen würde: Klappt nicht! Dafür ist ihr neues Werk einfach zu anders, um es mit diesen Alben vergleichen zu können. Aber eines haben diese Alben alle gemeinsam: Gänsehautmomente! Das Quartett (das im Übrigen seit Gründung in Originalbesetzung besteht… muss man auch erstmal schaffen) hat wieder zu alter Stärke zurückgefunden. Nach dem etwas enttäuschendem „Invented“ und dem zum großen Teilen versöhnlichen „Damage“ liefern JIMMY EAT WORLD mit Integrity Blues“ ein unglaublich atmosphärisches und mitreißendes Album ab, welches definitiv um den Titel „Album des Jahres“ ein gehöriges Wörtchen mitzureden hat. Ein besseres Gefühlskino findet ihr aktuell höchstwahrscheinlich nicht, also riskiert ruhig mal einen Blick… oder besser gesagt: ein Ohr.
von Sash