Muff Potter – Bei Aller Liebe

Wer sind eigentlich diese Muff Potter und warum würde ich sie gern immer noch in den Punkreigen schreiben, merke aber, dass sich das falsch und fast wie eine Beleidigung anfühlt. Gibt es politischen Pop? Ist Indie vermessen oder spielt das alles einfach keine Rolle, weil es ist, wie es ist und sich diese Band noch nie so richtig gern in eine einzige Schublade stopfen lies?

Es gibt also diese Bands, auf die sich viele Menschen (besonders der Subkulturen) einigen können und wollen: Muff Potter ist eine von ihnen. Bis 2009 erspielte man sich eine ansehnliche Fangemeinde in der deutschsprachigen Punkrock-Szene. 2009 war dann Schluss und die Band löste sich auf. Ich erinnere mich noch gut an diese Nachricht und wie für uns „Kids“ (jetzt muss ich selbst bisschen lachen) die Zeit kurz stillstand. Genauso erinnere ich mich aber auch noch an den Moment, wie ich mit offenem Mund und einem gefühlten Krampf im Kiefer den 2018er Überraschungsauftritt bei Jameln Rock den Förster beobachtete. Unter uns: Ich hatte sogar ein leicht verrücktes Kribbeln im Bauch.

2019 dann die erste Tour und irgendwas war mit Hot Water Music bis nun 2022 mit „Bei aller Liebe“ ein neues Album auf den Markt kam. „Was erwartet man von einem Muff Potter Album, 13 Jahre nach dem Letzten, in einer Zeit die (sagt man doch immer so schön) nie politischer war, als jetzt.“, fragt sich Rico, den ich gezwungen habe mir seinen Eindruck zur neuen Platte zu schicken, um eine Basis für mein Review zu haben. Man hat ja einfach gefühlt für nichts mehr Zeit!

Play Taste und los

Der Opener kommt nicht nur mit dem Titel „Killer“, sondern auch als ein ebenso betitelbares Highlight um die Ecke und verknotet sich wunderschön in dem vorhaltenden Konflikt aus dem Verteidigen des eigenen Willens und dieser großen Depression, die wir aktuell alle irgendwann und irgendwie spüren müssen. Höchste Zeit, wieder mal einen Brühwürfel zu lutschen und die final aufgeworfenen Fragen, ähnlich wie den Break der Melodie, als inneren Motivator zu nutzen. Weiter geht es mit „Ich will nicht mehr mein Sklave sein“ sowie „Flitter und Tand“, welche sich solide im vertrauten Muff´schen Kosmos einreihen. Auch, wenn sie in jeder ihrer Zellen ein bisschen in die aktuelle Zeit und die persönliche Entwicklung der Band übersetzt werden müssen. „Ich will nicht mehr mein Sklave sein“ knüpft dabei thematisch perfekt an „Killer“ an und spielt mit einer Wahrnehmung, die mehr zum Spiegel der eigenen Bedürfnisse wird, als man das vielleicht möchte. Egal, wie sehr wir uns freistrampeln und wütend, manchmal braucht es einfach die gereichte Hand, um Sicherheit zu verspüren. Die Melodie und das Arrangement von „Flitter&Tand“ machen mich unheimlich an. Der Song erweckt in mir einen Soundtrack-Moment und bringt mich damit und über Zeilen wie: „Und dieser Schwindel auf dem schmalen Grat, den wir balancieren in wildem Spagat und wie wir in den Seilen hängen – wir sind die freiesten, die freiesten Menschen, die wir kennen“ zum Nachdenken. Was ist dieses frei sein eigentlich? Bin ich wirklich frei?

[su_quote cite=“Muff Potter“]„Ein gestohlener Tag, ein gefundenes Fressen, ein wunderschöner Schlamassel“[/su_quote]

Einen Schritt zurück treten

„Ein gestohlener Tag“ klopft mit knapp acht Minuten Spielzeit an und ist so Nagelschmidt, wie ein Text nur sein kann. Der Frontmann erzählt uns bis zum Refrain über ein Bild, was mich sofort in die 1990er katapultiert. Ist das der Punkt, an dem man damals 2009 ausgestiegen ist, sind das diese Muff Potter, auf deren wütenden Inhalte ich mich in der Blüte meiner Pubertät betten konnte. Oder wie singt es sich so schön: „Turn on, Tune in, Drop out, Start up, Fuck off“ – denn hier geht es so gar nicht um mich, sondern wahrscheinlich um eine Neuinterpretation von Eva und Heinrich aus dem Roman „Gestohlene Tage“. „Ein gestohlener Tag, ein gefundenes Fressen, ein wunderschöner Schlamassel“: Eva und Heinrich sind Teil der homosexuellen Szene in Berlin Anfang der 30er Jahre. Was das bedeutet, sollte sich jede und jeder vorstellen können. Und während wir am liebsten den ganzen Tag „Niemals mehr zur Arbeit gehen“, schreien würden, lohnt es sich hin und wieder hinter die Fassade zu schauen, einen Schritt zurück zu treten und sich selbst weniger wichtig zu nehmen.

Nichts auf der Goldwaage

Weiter geht es mit „Wie Kamelle Raus“ und „Hammerschläge, Hinterköpfe“ und ich könnte schreiben und schreiben und interpretieren und mich verlieren. Dieses Album erweckt in mir das Gefühl, gesehen zu werden. Immer wieder muss ich über den eingewobenen Zynismus schmunzeln, fühle mich in meinen Gedanken zum Moloch Gesellschaft verstanden und wünsche mir fast, auch etwas kritisch am neuen Muff Potter Universum sehen zu können. Thorsten Nagelschmidt erzählte mir nämlich mal in einem Interview, dass er (völlig zu Recht) nicht mehr allzu viel von der aktuellen Fanzine- oder Musikmagazine Szene halten würde, da wir alle gleichgeschaltet und so furchtbar unkritisch sein. Das hat sich tief in mir eingebrannt und doch finde ich nichts, was auf die Goldwaage zu legen wäre. Und irgendwie habe ich das Album schon echt oft gehört, aber im Wahnsinn des Erwachsenenlebens einfach nie so richtig bewusst. Spannend eigentlich, dass in just dem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe „Hammerschläge, Hinterköpfe“ läuft. Spätestens bei „Wo sehen sie sich selbst in fünf Jahren“ will ich aussteigen und mir diesen penetranten „Bei aller Liebe“- Spiegel ignorant über die Schulter werfen. Allmählich verstehe ich auch den Titel des Albums.

Hier schließt sich der Kreis

„Privat“ ist kratziger, ein bisschen so kratzig, wie es früher kratzte und „Der einzige Grund aus dem Haus zu gehen“ erinnert mich irgendwie an einen deutschen Singer/Songwriter, der hier so gar nicht hinpasst, aber auf den Namen Uhlmann hört. Eine kleine Schelle zwischen all diesen großartigen Songs. 30.000 Schweine am Tag: Am Ende wartet „Nottbeck City Limits“ mit seinen unübersehbaren Wahrheiten, bei dem man sich erneut dem Spoken Word bedient, um eine Geschichte aus dem tiefsten Münsterländer Land und den Beobachtungen der Albumaufnahme im Hause Nottbeck, sowie der gleich um die Ecke ansässigen Tönnies Produktionsstätte zu erzählen und anzumahnen. Der Song positioniert sich ganz klar im Protest und reflektiert die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen, Zustände und Voraussetzungen im Hause Tönnies, sowie die eigene Blase unseres Seins oder im Fall Muff Potter, den abgeschotteten Mikrokosmos Albumaufnahme.

Das Album endet mit dem ruhig startenden Song „Schöne Tage“. Dieser entwickelt sich zu einer ordentlichen Rocknummer. Ein solider Abschluss, nach einem sehr zarten Albumopener. Hier schließt sich der Kreis. Muff Potter besiegeln ihr Comeback – kritisch, mit scharfem Blick und Texten, so messerscharf, dass man sich fast daran verbrennen könnte.

Video: Muff Potter -Nottbeck City Limits

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