Talco – And The Winner Isn’t

Talco sind mit ihrem siebten Studioalbum zurück und belegen eingängige, tanzbare Melodien mit schweren, anklagenden Inhalten. Somit wäre fast zu behaupten, dass „And The Winner Isn´t“ im nicht-italienischen Sprachraum fast zum Paradoxon wird. Gleichermaßen ergeben sich benannte Zusammenhänge allerdings auch als wenig unlogisch, spielt man das gesamte Gedankenkonstrukt bis zum Ende durch. Talco stehen indiskutabel für eine spannende Mischung aus Gesellschaftskritik, Tanzwut und Spielfreude.

Menschliche Erniedrigungen, moralische Fragwürdigkeiten und politische Abgründe

Über dreizehn Episoden erschaffen die Norditaliener  ein weiteres Konzeptalbum nach „Silent Town“. A la Truman Show werfen Dema und seine Mannen direkt zu Beginn die Frage auf, ob wir nicht wie Hamster durch immerwährende Episoden einer Scripted Reality-Show taumeln. In Gänze geht es konsequent um menschliche Erniedrigungen, moralische Fragwürdigkeit, politische Abgründe und allen voran um das Thema Wahrheit. Beim Mastering gab es Unterstützung aus Fort Collins: Bill Stevenson (Descendents) und Jason Livermore arbeiteten mit an „And The Winner Isn´t“.

„Onda Immobile“ wirft aktuelle unübersehbare verkrustete und institutionalisierte, politische Systeme in den Ring. An der Modernisierung auf der einen und Xenophobie und Populismus auf der anderen Seite arbeitet man sich bereits im zweiten Song kraftvoll ab. Um sich selbst verratende und anbiedernde Künstler, die nicht mehr ernst zu nehmen sind, geht es in „Senor Hood“. „Bomaye“ hingegen gibt Hoffnung. Es geht um Selbstwirksamkeit und -verwirklichung. Der Song ist Mohammed Ali und dem festen Glauben an sich selbst gewidmet (News). Weniger versöhnlich zeigt sich “Lungo La Macraba Stanza” und prangert eine sich fast ekelhaft vermehrende Doppelmoral an. Überhöhtes Streben nach Popularität und die damit aktuell unweigerlich verbundene menschliche Abhängigkeit moderner Technik und Medien rücken in den Fokus. Beeinflusst wird das Ganze gleichermaßen von Foucault und der Serie „Black Mirror“.

Egoismus, Korruption und Macht

„La Verità“ wurde als erste Singleauskopplung veröffentlicht (News). Es geht um nichts anderes, als die Wahrheit. Der Titel greift konkret das Konzept der Konstruktion von Wahrheit, ihrer Manipulierbarkeit und Machtimplikation auf. Konkret setzt die Ska-Punk-Band aus Marghera dies am Beispiel der Machtposition und dessen Missbrauch durch taktlose Journalisten und sogenannte „Influencer“ um. Sogar mit König Fußball rechnen die Venezianer in „Domingo Road“ kritisch ab: Talco lassen ein perfide inszeniertes Match zwischen Kommentatoren, unmoralischen und rücksichtslosen Ärzten, rassistischen Hooligans, Agenten, Managern und Anwälten im Wettlauf um die beste Rentabilität entstehen – Egoismus, Korruption und Macht. Zur Veröffentlichung von „And The Winner Isn´t“ arbeiten die Italiener erneut mit dem FC St. Pauli zusammen und veröffentlichen beispielsweise den Mazel Tov-Hit „St. Pauli“ als deutsche Bonus-Version (News).

Mit legitim erhobenen Zeige- oder wahlweise Mittelfinger schließt der fesselnde Erzählbogen voll scharfsinniger Beobachtungen: „Matemática Idea“ bäumt sich als Closer der neuen Scheibe durch die Kritik an den Verantwortlichen einer Politik des Stillstands, der Entmenschlichung und Verrohung auf.

Gewohnt druckvoll schleudern Talco einem die Melodien und Akkorde hurrikanesk um die Ohren

Musikalisch zeigen sich Talco gewohnt energetisch und druckvoll. Die beschriebenen Themen werden somit mehr als passend umrahmt. Die Venezianer schleudern einem ihre Melodien und Akkorde hurrikanesk um die Ohren und überzeugen wieder einmal im gewohnten Talco-Stil: hymnenhafte Bläserarrangements, anstiftende Up-Tempo-Beats, knackige Punk-Rock-Gitarren und eingängige Refrains mit folkloristischer Melodieführung. Was das für die anstehende Festivalsaison bedeutet, muss nicht lange diskutiert werden. Egal wo der Sechser auftaucht, ihre Fans werden nicht müde, den Punkchanka der Südeuropäer zu betanzen.

Vielleicht kann Musik nicht alles verändern. Aber in Zeiten, in denen immer mehr auf Abgründe hingearbeitet wird, die das gesellschaftliche Leben mehr und mehr unerträglich machen, gehören Talco zu den Bands, die ihrer Hörerschaft zukunftsweisend und hoffnungsvoll Aufzeigen, für was sich das tägliche Aufstehen lohnt. Talco machen Mut. Ob Gewinner oder Verlierer – es geht um die Sache!

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talco-and-the-winner-isnt-reviewVielleicht kann Musik nicht alles verändern. Aber in Zeiten, in denen immer mehr auf Abgründe hingearbeitet wird, die das gesellschaftliche Leben mehr und mehr unerträglich machen, gehören Talco zu den Bands, die ihrer Hörerschaft zukunftsweisend und hoffnungsvoll Aufzeigen, für was sich das tägliche Aufstehen lohnt.