Mit Tüsn ist es ein bisschen, wie mit moderner Kunst: Man muss sich darauf einlassen und einen zweiten oder dritten Blick wagen. Denn Popmusik kann auch anders klingen.
Düster, mehrdimensional, facettenreich und unerwartet. Das beweisen die drei Wahlberliner von Tüsn auch auf ihrem zweiten Album. Immer wenn man denkt, man habe schon alles gehört und es könne gar nichts mehr Neues kommen, entdeckt man auf einmal die „Trendelburg“.
„Große Gefühle und leise Töne“
Von großen Gefühlen und großem Kitsch
Der Nachfolger des starken Erstlingswerks „Schuld“ umfasst elf Titel, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Als Appetithäppchen wurden vorab bereits die Singles „Made in Germany“, „Kranke Heile Welt“ und „Küsn“ serviert – und damit bereits viel Pulver verschossen. „Made in Germany“ nimmt es nicht nur mit völlig irrationalem Nationalstolz auf und verkehrt den unsäglichen Bildzeitungs-Slogan „Bild dir deine Meinung“ ins Positive, sondern zeigt außerdem, wie rückständig das Denken in Ländergrenzen ist. Unterstrichen wird dieses politische Statement mit einem treibenden, düsteren Sound und einer tragenden Rolle des Schlagzeugs.
Große Gefühle und leise Töne dürfen auch auf Album Nr. 2 nicht fehlen. Mit „Noch Mehr“ schafft es auch ein Pianostück über das Ende einer Liebe auf die Platte. Dass Tüsn aber nicht immer stilsicher den richtigen Ton treffen, zeigen „Zweifel“ und „Scheitern“: Diese Stücke könnten auch ohne größere Schwierigkeiten auf einer Schlagerplatte untergebracht werden. Zu den ohnehin schon poppigen Melodien gesellen sich kitschige Textzeilen wie „Ich weiß wo eure Träume sich verstecken, sie sind hier“, „Es lohnt sich zu sehen, wohin die Winde uns wehen“ und „Wollte in unendlichen Wolken mit dir laufen und schauen, wie weit sie tragen“.
Mehr als die Spitze des Eisbergs
Das vielleicht stärkste neue Stück namens „Melanchotherapie“ ist keine leichte Kost und entfaltet sein gesamtes Potential auch nicht beim ersten Hören. Denn hinter diesem Namen verbirgt sich eine scharfsinnige Analyse vom Leben mit Gedankenkreisen, grundloser Traurigkeit und Tagen, an denen man am liebsten nur im Bett bleiben möchte. Zeilen wie „Will mit mir in den Keller gehen, bevor mein Über-Ich über mich weint“ und „Melanchotherapie, das Denken endet nie. Heute bin ich melancholisch und will mich in mir verlieren“ zeugen von einem tiefen Verständnis dieser persönlichen und alltäglichen Kämpfe. Der Indie-Gitarren-Sound ist nicht nur etwas Innovatives für das Trio, sondern begegnet einem auf „Trendelburg“ an verschiedenen Stellen wieder. Tüsn sind auf ihrem zweiten Album immer noch auf der Suche nach sich selbst und bringen dabei noch neue, spannende Facetten zum Vorschein.