Turbostaat tragen mittlerweile 21 Jahre Bandgeschichte auf ihren Schultern. 21 Jahre, in denen Sie für ihre Songs einen so unverwechselbaren musikalischen Charakter entwickelt haben, dass sie Ihren Sound fast patentieren könnten. Mit „Uthlande“ veröffentlichen die Flensburger Musiker das verflixte siebte Album, welches gar nicht so verflixt ist und dem Begriff Indie auf dem Weg zu den frühen Jahren den Rücken geschickt zudreht. Wir müssen hier raus!
„Ein alter Rat steht auf der Faust“
Antiquierte Begriffe von Halligen und Marschen
Turbostaat sind die Meister des kryptischen Sprachgebrauchs. Lyrisch, ja kunstvoll geht die Band an Ihr Songwriting und betitelt die Tracks mit Begriffen, die das Gros der Menschheit wohl nie zuvor gehört hat. So ist es vermutlich auch mit dem aktuellen Albumtitel, welcher nicht mehr, noch weniger, als ein alter Begriff für die Inseln, Halligen und Marschen vor dem nordfriesischen Festland ist. Nachdem das Vorgängeralbum „Abalonia“ sich mit Fragen der eigenen Identität und des Aufbruchs beschäftigte, hielt „Stadt Der Angst“, was der Name versprach. Konzeptionell könnte man nun interpretieren, dass nach Utopie und Antiutopie ein wenig Realität, Aufarbeitung und Wahrheit mit all den dazugehörenden Konsequenzen und Emotionen einzieht: „Ein alter Rat steht auf der Faust: Wer den Schnee umarmt, wird die Kälte akzeptieren!“
Ein wohliger Mantel aus Vernunft und Menschlichkeit
Thematisch starten die Nordlichter mit einer Hymne ans Nichtvergessen. Eindeutig positioniert beschreibt der Begriff „Rattenlinie Nord“ die Fluchtroute der NS-Verbrecher. Da die Musiker noch nie den Anschein machten hinterwäldlerisch zu denken, ist davon auszugehen, dass es gar nicht so sehr um das Kleben an alten Grausamkeiten, sondern vielmehr das geschärfte Auge der Gegenwart geht. Was auch der Auszug „ich seh Euch wieder schleichend auf der Rattenlinie Nord“ unterstützt. Antifaschistisches Gut wärmt Turbostaat in einem sehr wohligen Mantel reifer Vernunft und Menschlichkeit. Und „Brockengeist“, das sich am Ende Rio Reisers bedient, verdeutlicht den kunstvollen Spagat Pop-Anleihen in klassischem Punk zu betonieren, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. All diese Kraft, die man während des Hinschauens und Wahrnehmens finden und aufbringen muss, benötigen vor allem all diese eigenen autarken Selbstheilungskräfte, die an allererster Stelle das Durchhalten verlangen. So schaut man sich die Subkultur und all ihre Wunden beim Song „Heilehaus“ an und beruhigt den inneren Leistungsanspruch.
„Schön, dass man in eines neues Jahr mit einem so gelungenen Album starten kann.“
Auch musikalisch setzt sich dieses Motiv, welches all seine Gedanken und Gefühle noch wenig ordnen kann und eher impulsiv reagiert, durch. Man verzichtet auf epische Instrumental Parts und setzt auf deutliche Aussagen, die aber jedem seine eigene Interpretation genehmigen. Oft kämpfen sich klare Basslinien nach vorn und unterstützen deutlich die Struktur der Songs. Neben den zauberhaft düsteren Emo-Strenchen „Das Schöne Blau“ und „La Hague“, lässt „Brockengeist“ einen Refrain zurück, der bis dato nicht unbedingt als turbostaat´sches Aushängeschild betitelt wurde, aber unfassbar stimmig und gelungen ist. Es wirkt, als würden wir nun des Öfteren Turbostaat Refrains hören.
… und wenn ich hier einen sagen höre, dass sich jedes Lied gleich anhört, darf derjenige sich über meine erboste Begleitung beim Ohrenarzt freuen. Turbostaat verknüpfen über 20 Jahre und machen etwas ganz besonderes daraus. So besonders, dass man fast das Gefühl bekommen könnte, sowohl Antiuto- als auch Utopie seien überwindbar. Schön, dass man in ein neues Jahr mit einem so gelungenen Album starten kann.