Wenn eine Band, die stilprägend für ein ganzes Genre war, nach zehn Jahren erstmals wieder mit neuen Aufnahmen um die Ecke kommt und es sich dann nicht etwa um eine EP, sondern um ein ganzes Album handelt, sind die Erwartungshaltungen mindestens so groß wie die Vorfreude. So am aktuellen Beispiel von Alexisonfire zu beobachten, die mit „Otherness“ ihr erstes Album seit „Old Crows/Young Cardinals“ von 2009 veröffentlichen. 13 Jahre, in denen sich die Band trennte, wieder vereinte und anscheinend inzwischen wieder einen Alltag aus Tonstudios und weltweitem Touring pflegt. Dass die Kanadier nach all der Zeit aber kein Interesse daran haben bereits Erlebtes einfach neu aufzukochen, wird schnell klar.
Anderssein
Der Name des Albums ist Programm, so viel wird schon nach den ersten Sekunden klar. Logisch, schließlich gehen 13 Jahre an niemandem spurlos vorbei. Da sind Veränderungen unumgänglich. Auf „Otherness“ gehen Alexisonfire jedoch noch einen Schritt weiter und versuchen nicht nur nicht diese Veränderungen zu kaschieren, sondern heben sie stattdessen hervor. Schon der Opener „Committed to the Con“ stellt schnell klar: trotz aller Ähnlichkeiten gibt es hier viel Neues zu entdecken. Viel Anderes. Die Band hat den Grundgedanken des Albums wie folgt zusammengefasst:
Keine Nostalgie-Nummer
Nach eigenen Angaben im Vorfeld der Veröffentlichung gab es schon früher Ambitionen, mehr Stoner-Einflüsse in den Songs der Kanadier unterzubringen. Ambitionen die, wie Sänger George Pettit in einem Interview sagte, daran scheiterten, dass die Band zu selbstkritisch war und sich dieser Schritt für sie nicht richtig anfühlte.
Diese Bedenken haben sie inzwischen offenbar über Bord geworfen, denn „Otherness“ strotzt nur so vor Stoner-Einflüssen, die sich nahtlos in den Soundteppich des Albums einweben. Generell zeigen sich die fünf Musiker von ihrer experimentierfreudigen Seite. So gesellen sich auch Synth- und Sludge-Einlagen zu den markant-typischen Gitarrenriffs und dem wechselnden Gesang von Dallas Green, Wade MacNeil und George Pettit, die in den vergangenen Jahren alle ihren musikalischen Horizont in anderen Projekten erweitert haben. Songs wie „Sweet Dreams of Otherness“, „Dark Night of the Soul“ und “Blue Spade” haben alle die klare Alexisonfire-Handschrift, angereichert durch Nuancen und Ideen, die es so zuvor nicht im Repertoire der Band gab. Im Grunde lässt sich das aber über nahezu jeden Song auf der Platte sagen. Egal ob den punkigen „Conditional Love“, oder den melancholisch melodischen „Sans Soleil“. Alles ist vertraut. Und doch anders.
Familienangelegenheit
Ein Grund für so manch neuen Input ist sicher auch die Tatsache, dass sich der Songwriting-Anteil der einzelnen Mitglieder verändert hat. Beispielsweise stammt der fantastische „Reverse the Curse“ primär aus der Feder von Bassist Chris Steele, der zuvor nie Lyrics zu den Liedern beitrug. Auch die drei Sänger haben ihre Arbeitsweise verändert und statt ausschließlich den eigenen Parts nun auch die der anderen geschrieben.
Genau diese Art von Band-interner Innovation sorgt dafür, dass „Otherness“ als Ganzes frisch wirkt und in jedem Lied andere Aspekte zu bieten hat, ohne an Homogenität zu verlieren.
Die wichtigste Veränderung stellt jedoch der Sound der Platte dar. Nach Premiere der vorab veröffentlichten Singles wurde der gewählte Mix in sämtlichen Kommentarspalten heiß diskutiert. Einige Fans bemängelten, dass die Vocals an mancher Stelle zu stark im Hintergrund lägen und, dass der Sound insgesamt gedämpft klänge. Und es stimmt, wer hier eine ultrasaubere Studiosession erwartet wird ein Stück weit enttäuscht sein. Meiner Meinung nach mindert der Mix jedoch nicht die Qualität der Platte. Im Gegenteil, „Otherness“ erhält dadurch einen rohen, rauen Charakter, der hervorragend zu all den neuen Einflüssen passt, die nun Teil der Alexisonfire-DNA sind. Für den Klang der Platte zeigen sich die Kanadier übrigens selbst verantwortlich, denn sie übernahmen eigenhändig die Produktion. Auch die Tonabmischung blieb gewissermaßen in der Familie und wurde Fucked Up Schlagzeuger Jonah Falco überlassen.
Alles, außer normal
Es ist schon Wahnsinn, wenn eine Band nach so langer Zeit ein neues Album vorlegt, das vor so viel spürbarer Spielfreude und Ideen beinahe überfließt. „Otherness“ mag sicher nicht perfekt sein. Der Sound ist, gemessen an den letzten beiden Alben, zunächst gewöhnungsbedürftig und hier und da hätte es aus meiner Sicht etwas schneller, etwas härter sein dürfen. Doch dann hätte „Otherness“ ein ganz anderes Feeling, ein ganz anderes Flair als das, welches mich aktuell so wunderbar in seinen Bann zieht. In diesem Sinne: Welcome back!