Booze Cruise Festival 2019 – Der Sonntag

Foto: Sarah Fass

Zum zweiten Mal sehen wir, wie sich das Licht, der noch verschlafenen Sonne über den Dächern Hamburgs ausbreitet. Während die letzten Hartgesottenen des Samstags (Festivalbericht) so langsam unter ihren Decken verschwinden, startet für die Crew hinter dem Festival und die ersten Bands der Sonntag auf dem Booze Cruise Festival. Ein paar Minuten außerhalb St. Paulis starten Primetime Failure, im Zuge einer spontane Frühstücksshow, die das „Booze“ der Cruise weit oben halten wird und am Ende das Tages unter der alles erklärenden Wortneuschöpfung „Wannentime“ in die Geschichtsbücher eingehen wird, in den Sonntag. Klassenfahrt halt!

„Es ist diese Nacht, die über Hamburg einen zarten Schleier tiefzufriedener Endorphine legen wird.“

Video: Primetime Failure – Watch It Burn

Moin Pizza Party

Viertel nach zwölf stimmt bereits Jason S. Thompson, Ex-The Sky We Scrape und aktuell Little Teeth, sein Solo Set an und weckt das noch verschlafene Festivalpublikum mit Frightened Rabbit Songs, die er bereits am vorherigen Abend im Zuge seines Coversets im Gun Club performte, zur Pizza Party. Die urbane Brauerei mit ihrem BrewPub, der Microbrauerei, Restaurant und Terrasse bildet eine großartige Location, bei bestem Sommerwetter. Ein ziemlich perfekter Einstig in den Tag möchte man meinen, der sich zu Beginn in großen Teilen zwischen Hafenklang, Überquell und MS Tonne abspielen wird. Es gibt nicht besonders viel an diesem Wochenende auszusetzen, außer, dass wir uns für die Pizza Party ein veganes Angebot und eine Struktur, die für den Besucher etwas weniger zeitaufwendig ist, wünschen würden.

„Überyou bringen ihre Schiffsbesatzung ordentlich ins Schwitzen“

Während Jared Heart im Überquell spielt, steigen wir auf die MS Tonne, um Überyou ohne wirklich richtigem Boden unter den Füßen, zu sehen. Während ein paar der Mitfahrenden der The Muttnicks und Aterials Show das Partyboot MS Tonne verlassen, steigt eine ganze Handvoll neuer Gäste zu. Es wird eng auf Deck und trotz, dass man in einer angenehmen Brise Fahrtwind steht, wird die Schweizer Band ihre Schiffsbesatzung ordentlich ins Schwitzen bringen. Schnelle Riffs, Ians raue Stimmen, Bier und Moshpits beweisen ab der ersten Sekunde den Stand der Musiker bei ihren Fans. Hier geht es um Zusammenhalt und Community und, natürlich, den einen oder anderen Schnaps. Überyou geben immer 200% und so ist es nie so wirklich verwunderlich, dass Ians Stimme am Ende eines Überyou-Abends meist irgendwo zwischen Mikro und Schlagzeug verschütt‘ gegangen bleibt. Die Kunst auf See ist es, beim Crowdsurfen nicht über Bord zu gehen, aber auch das meistern die Musiker souverän und lassen ihr Publikum zur Against Me! Überhymne „Sink, Florida (Hamburg), Sink“ sich aus voller Brust singend in den Armen liegen. Auf dem Schiff werden The Run Up und Bong Mountain erneut ordentlich Gas geben, doch wir steigen ab und machen uns, mit einem kleinen Überquell-Abstecher, auf den Weg zum Hafenklang.

 

Bildergalerie: Überyou

Und dann wird einem klar, wie lebendig man ist

Dort angekommen trifft man sich, wie so oft auch an den Vortagen, in heiterer Runde. Es wird gequatscht, gelacht, die eine oder andere Flause macht sich in den Köpfen breit und man zelebriert dieses großartige Festival – mittlerweile etwas weniger taufrisch. Wie schmal der Grat zwischen großer Freude und tiefer Trauer ist, zeigt sich unter anderem im Set der Ducking Punches. In ihrem Set gedenken sie einem Freund, der sich das Leben nahm – dass dieses Thema so präsent und wichtig ist, wie schon lang nicht mehr, zeigt sich besonders daran, dass es auch an diesem so lebendigem Wochenende immer wieder auftaucht. Die Briten faszinieren mich schon eine Weile, denn während einem die musikalischen Themen das Herz zerreißen, schlagen sie dir gleichzeitig mit dem Betonpfeiler gegen den Hinterkopf, um dir klar zu machen, wie verdammt lebendig du bist und das zeigt sich auch auf ganzer musikalischer Ebene. Es ist nicht allgegenwärtig, so viele Emotionen über die Instrumente in den Zuschauerraum zu blasen.

Bildergalerie: Ducking Punches

Der perfekte Spagat im leicht emo-angehauchten Punkrock

Das Hafenklang ist aktuell nicht die einzige Bühne, die sich Not Scientists und Ducking Punches teilen. In französisch-englischer Freundschaft betouren beide Bands gemeinsam Europa. Ob es am minimierten Line-Up der Band aus Lyon liegt, oder der generellen Stimmung des Wochenendes, wird am Ende egal sein, denn Fakt ist, dass der rohe Sound der Franzosen ein volles Hafenklang gegen die Wand drückt. So intensiv hat man die Musiker wohl lange nicht gesehen. Und während Not Scientists den perfekten Spagat im leicht emo-angehauchten Punkrock finden, gibt es keine Diskussion, dass diese Band genau auf dieses Festival gehört.

Bildergalerie: Not Scientists

„Festivalness at its finest!“

Wir müssen uns eingestehen, ein wenig erschöpft zu sein. Es ist immerhin der dritte Tag und so langsam wird die Bezifferung der Tage immer häufiger auftauchen. Wo man am Freitag noch die Beine in die Hand nahm, wird jetzt geschlendert. Vorbei am Hans-Albers-Platz erscheint ein eiskalter Mojito für uns mehr als logisch – Vitamine, ätherische Öle, gut destilliertes Zuckerrohrextrakt – das ist Wellness at its finest, Festivalness eben. Wenn man dann feststellt, dass man plötzlich, gefühlt zum ersten Mal, „nur“ zu zweit unterwegs ist, wird einem an der nächsten Straßenecke bewusst, dass das kein Zustand ist, der lange anhält. Den Gedanken noch nicht mal zu Ende gesponnen, tauchen aus allen erdenklichen Himmelrichtungen Menschen auf, die man mehr als gern um sich hat.

Kannentime!

Kurz noch um die Ecke und dann sind wir wieder im Menschenzoo. Wenn Ihr unseren Bericht vom Freitag auch nur annähernd gelesen habt, habt Ihr bereits jetzt eine Idee, wie viel Inhalt dieser eine Satz enthält. Unserer Erwartungshaltung wird zu 1000% erfüllt. Es ist KannenPrimeTime und somit heiß, stickig, und angenehm laut. Es entsteht ein wildverstricktes Menschenknäuel, Getränke, Schweiß und Musikverliebte fliegen durch die Luft und ein Maskottchen, was aber lieber etwas verpennt, fix und fertig oder angetrunken (alles ist möglich) in der Ecke abwartet, gibt es auch. The Sewer Rats gehören, wie ihre Kumpels The Jukebox Romantics oder Primetime Failure zu dieser herzlichen Punkfamilie. Der Menschenzoo ist die Herberge dieser Bande und feiert erneut ein Fest, welches sich – besonders in guter Musik, grölenden Chören, Crowdsurfern und verschüttetem Alkohol – gewaschen hat. Später werden wir mit den Kölnern ins Überquell umsiedeln, in dem sie die Definition eines Rancid Coversets neu schreiben werden.

Bildergalerie: The Sewer Rats

Western Settings fesseln die Herzen und Ohren ihrer Zuhörerschaft im Nu

Western Settings (Interview) sind mittlerweile eine feste Institution der modernen Punkszene. Mit ihrer aktuellen EP „Agnus“ im Gepäck und einer Handvoll neuer Songs des im Frühherbst erscheinenden Albums „Another Year“ fesselt die Band aus San Diego die Herzen und Ohren ihrer Zuhörerschaft im Nu. Die Energie, die Western Settings auf der Bühne verbreiten ist unbeschreiblich. Die Band verzichtet auf lange Ansagen und feuert stattdessen lieber einen Song nach dem anderen ab. Die Texte, die so vielseitig sind, wie das Leben selbst, spiegeln sich in dem kraftvollen und tiefemotionalen Sound der Kalifornier. Frontmann Ricky Schmidt transportiert den Herzschmerz der Gesellschaft mit geschlossenen Augen oder fokussiert die Zuhörenden auffordernd. So authentisch die Band in ihren Songs aktuelle Themen aufzeigt, so erholsam ist dieser kleine, melodische Exkurs in den Gun Club, bevor die wilde Horde wieder zurück in den Menschenzoo zieht.

Bildergalerie: Western Settings

„Chöre stimmen ein, Menschen fliegen durch die Luft und werden über die Hände der anderen getragen, die Band strahlt und ein Abend, der viel zu früh endet nimmt seinen Lauf, Richtung Geschichtsbuch.“

KannenPrimeTime die Zweite: Ich ziehe meinen Hut, dass Primetime Failure aus Bielefeld es schaffen, nach zwei bis drei Tagen gelebtem Booze Cruise Festival, um viertel vor zwölf völlig souverän auf der Bühne des Menschenzoos zu stehen. Dass das Ganze dann so ein wilder Ritt werden soll, war im besten Fall anzunehmen. Der Menschenzoo ist ausverkauft. Man quetscht sich in jede nur mögliche Lücke. Die Stimmung könnte nicht besser sein und dann geht es los. Mit leichter Verzögerung entlädt sich ein dermaßen symbiotisches, musikalisches Gewitter zwischen Band und Besuchern im kleinen Kellerclub der Hopfenstraße, dass das Klima des Raumes tropischer kaum sein könnte. So schnell, wie das Bier über den Tresen in die durstigen Hände rutscht, so schnell verdampft es bereits auf der Zunge seines Besitzers und wird direkt wieder ausgeschwitzt. Die Bühne wird gestürmt, das Mikro geentert und die Gesichter aller beteiligten sprechen ihre ganz eigene Sprache. Es ist diese Nacht, die über Hamburg einen zarten Schleier Endorphine legen wird.

Der erste Akkord zündet und es knallt aus allen Richtungen

„Frisch“ geduscht und völlig euphorisiert bricht die Horde auf, um das große Finale im Überquell zu feiern. Als wir die Brauerei mit Blick auf die Elbe erreichen, läuft uns Gitarrist Archi strahlend über den Weg und sieht aus, wie der junge Lars Frederiksen. Es ist die letzte Show des Sonntags und schon morgen werden die ersten den Weg nach Hause antreten. Es fühlt sich an, wie die Ruhe vor dem Sturm, bevor The Sewer Rats das Überquell so auseinandernehmen werden, dass man sich ernsthaft am nächsten Tag fragen wird, ob es in diesem Laden je wieder vollverstärkte Punkrock Shows geben wird. Mit jeder Menge Rancid Klassikern im Gepäck ist der Raum vor der Bühne, die Terrasse und gefühlt jede verfügbare Ecke des Venues gut gefüllt. Es ist wuselig, laut und es wird verkündet, dass heute „Sauf’n“ auf dem Programm steht. Dann zündet der erste Akkord und es knallt aus allen Richtungen. Chöre stimmen ein, Menschen fliegen durch die Luft und werden über die Hände der anderen getragen, die Band strahlt, die Bühne wird geentert und ein Abend, der viel zu früh endet, nimmt seinen Lauf Richtung Geschichtsbuch.

Bildergalerie: Primetime Failure