Ein arschkalter Samstagmorgen und ich sitze zugedeckt mit meiner Hündin auf der Couch, schlürfe meine (erste) Kanne Kaffee und versuche mich daran zu erinnern, wie dieses Jahr aus musikalischer Sicht verlief. Ist immer so eine Sache mit dem Gedächtnis. Sobald etwas neu erscheint höre ich es hoch und runter, bis es mir zum Hals, zu den Ohren und (je nach Materiallage auf diesem neumodischen Youtube, das die Kids alle so lit finden) auch zu den Augen raushängt. Vorgespult, zwei Wochen später habe ich vergessen, dass die Platte überhaupt in diesem Jahr erschienen ist, ehe ich sie, mit etwas Glück, im Dezember wiederentdecke und meinen Liebsten zur Weihnachtszeit damit auf den Nussknacker gehen kann. Dabei gab es auch 2022 wieder so viel tolle Musik, die mich lange begleitet hat und auch weiterhin begleiten wird, dass ein kleiner Tribut, für den ich mein gesamtes Erinnerungsvermögen bemühen werde, mehr als angebracht ist.
In diesem Sinne lade ich Euch ein, mir einen kleinen Teil Eurer unbezahlbaren Zeit zu schenken und kurz zu verweilen, um im Gegenzug meine musikalischen Freuden des Jahres mit Euch gemeinsam revuepassieren zu lassen. Nehmt Platz, hier sind Kaffee und Kekse. Pizza von gestern Abend findet Ihr im Kühlschrank.
Meine Lieblingsalben 2022
These New South Whales – S/T
Um die Problematik des Rezenseffekts direkt aus dem Weg zu räumen, beginnen wir mit der aktuellsten Platte auf dieser Liste. Die Australier leben seit Jahren schon ein Doppelleben aus Spinal Tap-mäßiger Meme-Idiotie auf Comedy Central und den musikalischen Ambitionen auf der Bühne. Ein Tauziehen, das sicher nicht immer einfach ist. Wer jedoch Angst hatte, dass These New South Whales sich gänzlich ihrer Show widmen und die Musik unterordnen könnten, wird durch die neue Platte eines Besseren belehrt. Nie klangen sie besser! Ein Album voller Hits.
Viagra Boys – Cave World
Keine Band hat mich 2022 so sehr geprägt wie die Viagra Boys. Wie ein Schwamm habe ich ihre Diskographie absorbiert und auch jeden verfügbaren Clip verinnerlicht, den ich finden konnte, denn leider hatte ich noch nicht das Vergnügen, Sebastian Murphy und Co. Live zu erleben. Immerhin schonmal ein Ziel für 2023! „Cave World“ ist ein weiterer Beweis dafür, dass hier ganz große Künstler mit einem genialen Geheimrezept am Werk sind.
Water Rats – Tetrix
Eine meiner Entdeckungen des Jahres! Bisher hatte ich von den Water Rats leider noch nie etwas gehört, doch durch einen glücklichen Zufall in meiner Timeline hat sich das nun geändert. „Tetrix“ ist ein abwechslungsreiches, hoch energetisches Album, das mir vor allem stimmlich gefallen hat und hoffentlich die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient!
The Good, the Bad and the Zugly – Research and Destroy
Für mich wahrscheinlich DAS Album des Jahres! Es gibt ja trotz der großen Qualität im Skandi-Rock immer noch Leute, die steif und fest behaupten, das Genre wäre mit Hank von Hell gestorben. Wer den musikalischen Horizont jedoch nicht in eine Turbojugend-Kutte eingewickelt mumifiziert hat, wird schon seit geraumer Zeit wissen, dass GBZ der wandelnde Gegenbeweis sind!
Drug Church – Hygiene
Etwas überraschend haben mich Drug Church mit ihrem neuesten Album dieses Jahr überrumpelt. Bis dato konnte ich mit der Band relativ wenig anfangen – vielleicht weil mich weder Drogen noch die Kirche interessieren? „Hygiene“ hat es jedoch direkt mit mehreren Songs in meine Rotation geschafft und ist bisher auch dort geblieben.
Alexisonfire – Otherness
Zu guter Letzt noch ein Album, das einen besonderen Platz in meinem Herzen hat. Nicht nur, weil es das große Comeback einer meiner absoluten Lieblingsbands ist und mir die Sommermonate versüßte, sondern auch, weil es das erste Albumreview war, das ich hier im Magazin veröffentlichen durfte!
Meine Lieblingsshows 2022
Im Sommer ging es nach langer langer Zeit endlich wieder los mit Konzerten, sowohl als Besucher wie auch als Protagonist. Von beidem leider zu wenig, aber man muss ja schließlich Steigerungspotenzial für das kommende Jahr haben. Immerhin konnte ich 2022 einige Künstler von meiner persönlichen Bucketlist streichen.
Stiff Richards im Urban Spree Berlin
Mein Konzerthighlight schlechthin in diesem Jahr! 20 Uhr saß ich zuhause und sehe, dass die Australier, zum ersten Mal überhaupt, in Deutschland unterwegs sind. Und dann auch noch fast vor der Haustür! Jacke geschnappt und Schuhe geschnürt und auf in den Regen, um mit Glück bei der Abendkasse durchgelassen zu werden. Die erste Vorband habe ich leider verpasst, doch dafür haben mich Suck gut auf das Hauptprogramm vorbereitet. Dann kamen Stiff Richards endlich und sofort war die Spielfreude spürbar. Jeder Mensch im Raum war in Bewegung, von der ersten bis zur letzten Sekunde. Und als kurz vor Schluss der Strom ausfiel und nur das Schlagzeug den Beat für den singenden Publikumschor vorgab, bis das Licht plötzlich wieder anging und die Band nahtlos in den nächsten Song überging, war der Abend perfekt!
Sons of the East im Lido Berlin
Etwas ruhigere Klänge gab es dann wenige Wochen später von den ebenfalls aus Australien kommenden Sons of the East. Die hatten als Anheizer Kim Churchill dabei, der eindrucksvoll gezeigt hat, wie viel Sound ein einzelner Mensch nur mit einer Gitarre, einer Mundharmonika, einer Basedrum und der eigenen Stimme erzeugen kann. Die Hauptband nahm die Energie direkt auf und gab ein wunderbares Set aus alten und neuen Klassikern zum Besten, das so schön war, dass es ruhig noch 30 Minuten länger hätte gehen können.
Clowns im SO36 in Berlin
Um das australische Triple abzuschließen, gab es im Sommer auch die Clowns auf die Ohren. Offenbar waren sie vor dem Tourstart in die Klamottenkiste ihrer Eltern gefallen, denn die fünf sahen aus, als hätte man sie aus einer Rock-Zeitschrift der 80er Jahre ausgeschnitten. Was absolut nicht negativ gemeint ist! Nach 2 Jahren Corona bedingter Abwesenheit konnte ich sie endlich wieder in Aktion erleben und auch mal wieder stagediven. Mehr Energie (und Lautstärke!) als an diesem Abend geht nicht!
Frank Carter & The Rattlesnakes im Astra in Berlin
In den vergangenen beiden Jahren habe ich keine Band so ausgiebig gehört wie Frank Carter und seine Klapperschlangen. Entsprechend glücklich war ich, als ich sie nun endlich live sehen konnte, in bester Begleitung. Was für eine Bühnenpräsenz! Umso erstaunlicher, da Frank und Co. bereits angeschlagen waren und wenige Tage später ein Konzert aufgrund von Krankheit absagen mussten. Da haben wir Glück gehabt, sie überhaupt sehen zu können!
Worauf ich mich 2023 am meisten freue
Das kommende Jahr wird aus persönlicher Sicht schonmal dadurch ein Besonderes, da meine eigene Band ein Album veröffentlicht. Unser erstes, um genau zu sein. Darauf freue ich mich schon sehr lange, denn damit wird ein kleiner Lebenstraum für uns alle in Erfüllung gehen.
Davon abgesehen hoffe ich vor allem, nicht in Stillstand zu geraten. Gerade in Zeiten sozialer, gesundheitlicher und wirtschaftlicher Krisen ist die Verlockung groß, sich Zuhause einzuschließen und die Welt auszublenden. Dabei gibt es so viel Schönes, das es zu machen, entdecken und erfahren gilt. Ich möchte das neue Jahr mit einem Maximum an Motivation angehen, alte Projekte abschließen, neue starten und mein Leben weiterhin mit den Menschen teilen, die mir am Herzen liegen.
Kaffee ausgetrunken? Kekse aufgegessen? Dann nimm Dir noch einen Glühwein für den Weg mit, heute soll es Schnee geben.