Good Riddance – Thoughts and Prayers

Es muss um 1986 gewesen sein, als der Good Riddance Frontmann Russ Rankin dieses musikalische Bollwerk gründete, um ein Ventil für eine schon damals unerträgliche politische Frustration zu finden. Aufgewachsen in der Surf- und Skateboard Szene Kaliforniens, beweisen die Musiker auch gut 30 Jahre später mit „Thoughts and Prayers“, wie wichtig ihre unermüdliche Stimme für die Szene und all ihre Generationen ist.

„Du bist nicht naiv genug zu glauben, dass wir in einer Demokratie leben, oder?“

An die Schere zwischen Arm und Reich

Schon der Opener steckt voll von (leider) zeitlosen Themen. Eröffnend richtet sich die Ansprache des Songs „Edmund Pettus Bridge“ an die Schere zwischen Arm und Reich und dem blinden Folgen vorgesetzter Informationen und Wahrheiten eines kapitalistischen Machtsystems. Es sind die Worte Gordon Gekkos aus dem 87er Film „Wall Street“: „Es gibt neunzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung da draußen, mit wenig oder gar keinem Eigenkapital. Ich erschaffe nichts. Ich besitze. Wir machen die Regeln, Kumpel. Die Nachrichten, Krieg, Frieden, Hungersnot, Umstürze, den Preis einer Büroklammer. Wir ziehen das Kaninchen aus dem Hut, während alle da draußen sitzen und sich fragen, wie zum Teufel wir das gemacht haben. Du bist nicht naiv genug zu glauben, dass wir in einer Demokratie leben, oder?“

Ein sich immer mehr verschärfendes gesellschaftliches Paradoxon

Gleichermaßen zeigt der Titel ein sich immer mehr verschärfendes gesellschaftliches Paradoxon: Der Name der titelstiftenden Brücke geht auf den General Edmund Winston Pettus zurück, einem ehemaligen Brigadegeneral der konföderierten Armee, US-Senator Alabamas und hochrangigem Mitglied des Ku-Klux-Klans. Die Brücke steht allerdings gleichermaßen für den Kampf gegen den Rassismus. Die Protestmärsche im dortigen Selma, die mit dem „Bloody Sunday“ starteten, markieren parallel eine Wegmarke der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Beteiligt war 1965 auch Martin Luther King, der Mann, der den Schwarzen in Amerika das Wahlrecht sicherte. Die Polizei entfesselte damals ein wahres Blutbad gegen eine friedliche Demonstration, welche im dritten Anlauf dennoch siegen sollte. Erkennt Ihr Parallelen?

„Es gibt wenige Bands, die sich so einen eindrücklichen Widererkennungswert auf die Stirn schreiben können.“

Während Good Riddance also in ziemlich genau 29 Minuten ihre messerscharfe Beobachtungsgabe zeigen, halten sie musikalisch das, für was sie schon immer standen: thematischen Tiefgang, stakkatoeske Rhythmusgeschosse, melodische Punkhymnen und solide Pop-Punk Durchatempausen. Es gibt wenige Bands, die sich so einen eindrücklichen Widererkennungswert auf die Stirn schreiben können. In der Kürze der Zeit fühlt man sich in die 90er zurückversetzt, möchte sein Skateboard schnappen und damit all diesen Nationalisten und Idioten da draußen auf dem Hinterkopf hauen! Wenn man das „Comeback“-Album „Peace In Our Time“ (Albumreview) schon stark fand, wird man nun vielleicht sogar überwältigt sein. Live kann sich das nur maximal explosiv entladen.

Eine neue Legitimation des Pop Punks

46 Sekunden melodisches Uptempo bringt „Rapture“. Die Vorabveröffentlichungen „Don’t Have Time“ und „Our Great Divide“ schließen an und spiegelt die beispiellose Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft. Ich muss Euch nicht erklären, in welchen Zeiten wir leben und dass sich einer der wenigen positiven Outputs im heimischen Plattenregal spiegelt, aber ich möchte hier schon teasern, dass „Thoughts & Prayers“ durchaus das Potential hat, sich in den Top Five Alben des Jahres zu etablieren. Mit „Wish You Well“ und „Precariat“ bewegt sich die Platte schnurstracks gen Mittellinie. Während beide Stücke, ähnlich wie „No Safe Place“, mehr im Pop-Punk grasen, als es Songs der Band aus Santa Cruz je taten, liefert Ersterer den wohl catchiesten Refrain der Bandgeschichte. Good Riddance beweisen sich somit nicht nur im altbewährten, sondern gegben dem Pop Punk des 21. Jahrhunderts eine neue Legitimation. „No King But Caesar“ blickt mit seinen klassischen Hardcorepunk und Streetpunk Elementen vorsichtig auf die zerstörerische Kraft der Selbstgefälligkeit und die bittere Warnung von „Pox Americana“ wäre ohne die verräterischen Harmonie in all ihrem Zynismus kaum auszuhalten.

„Ich hatte diesen naiven Gedanken, dass wir die Welt verändern werden.“

Wenn die Ruhe vor dem Sturm erlischt, treten Good Riddance erneut ordentlich aufs Pedal und geben Vollgas. Einen Aufruf zur friedlichen Revolution stellt das Novum der Platte: Erstmalig singt Rankin im Song „Lo Que Sucede“ auf Spanisch und bereitet damit das hoffnungsvoll hymnische Ende „Requisite Catastrophes“ vor. Ein Song, der sich versöhnlich und optimistisch anfühlt, der aber auch eine Reise in alle denkbar möglichen Gefilde offen lässt. „Ich hatte diesen naiven Gedanken, dass wir die Welt verändern werden, als wir mit der Band anfingen und dass wir den Leuten die Augen für die Ungerechtigkeiten der Welt öffnen werden“, sagt Rankin. Leider ist es ein Fakt, dass diese Welt durch den musikalischen Aufschrei allein in ihrer morbiden Funktionalität kaum merkbar verändert wird. Es ist aber gleichermaßen ein Fakt, dass das politische Bewusstsein und die humanistische Verantwortung der Hörenden wachsen und sich eine Generation vereint, die es nicht ausshält still abzuwarten oder zu resignieren.

Video: Good Riddance – Our Great Divide

Hier erhältlich
GOOD RIDDANCE THOUGHTS AND PRAYERS Fat Wreck ChordsGood Riddance – Thoughts and Prayers
Release: 12. Juli 2019
Label: Fat Wreck Records
Überblick der Rezensionen
Bewertung
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good-riddance-thoughts-and-prayersIn gerade einmal 29 Minuten zeigen Good Riddance ihre messerscharfe Beobachtungsgabe und halten musikalisch das, für was sie schon immer standen: thematischen Tiefgang, stakkatoeske Rhythmusgeschosse, melodische Punkhymnen und solide Pop-Punk Durchatempausen. Es gibt wenige, die sich so einen eindrücklichen Widererkennungswert auf die Stirn schreiben können, wie die Band aus Santa Cruz.