Marias musikalischer Jahresrückblick 2021

Maria Jahresrückblick

Stilecht sitze ich bei Salbeitee und Physalis auf dem Sofa und versuche, so motiviert, wie die letzten 673 Tage des laufenden Jahres, meinen Jahresrückblick zusammenzuschreiben. Ich komme wie immer auf den letzten Drücker um die Ecke, denn morgen tragen wir die zweite Runde 2020 zu Grabe und als Einstimmung frage ich mich, was ich wohl letztes Jahr um diese Zeit geschrieben habe.

„Ich möchte mehr sein und weniger eilen, denn ich habe das Gefühl, dass im Stillstand die Zeit besonders schnell rennt. Das schmeckt mir nicht.“

„Ich hoffe, dass wir nie wieder vergessen werden, wie wertvoll eine Umarmung ist.“, habe ich zu meinem Zitat 2020 gemacht und das bleibt, auch wenn wir mutiger und geimpfter sind, bis heute bestehen. Ich habe allein aus der Subkultur so viele Herzensmenschen seit zwei Jahren nicht gesehen, dass ich beim Gedanken daran ganz melancholisch werde. Mir fehlen die Matratzenlager in meinem Wohnzimmer nach unseren Shows und dieses breite Grinsen, wenn ich einen Club betrat und genau wusste, dass ich zu Hause bei der Familie bin, die ich mir ausgesucht habe. Ihre alle wisst, wer Ihr seid – ihr fehlt mir schmerzlich.

Gleichermaßen war ich noch nie so müde und erschöpft. Mein Klinikjob brachte mich an Grenzen, die ich bis 2020 nicht kannte. Ich habe keine Ahnung, wie wir das mit all den Tiefs der letzten Jahre stehen und Tag für Tag aushalten. Ich habe unendlichen Respekt vor jeder Kollegin, jedem Kollegen und allen, die dieses Schweinesystem am Laufen halten. Danke.

„Alles, was zusätzlich kommt, wird mich in pure Euphorie versetzen!“

Letztes Jahr schrieb ich außerdem: „Ich wünsche mir, dass ich mich in meinem nächsten Jahresrückblick darüber freuen werde, dass mir im Pit eine verschwitzte Achsel über den Kopf gezogen wurde.“ – ich habe in diesem Jahr genau ein Konzerthaus von innen gesehen und das große Privileg erfahren dürfen, im hohen Bogen in eine Box zu segeln. Diese Narbe wird mir wohl für immer in Erinnerung bleiben – danke an den oder die Pogende; das hat sich sehr viel lebendiger angefühlt, als man vielleicht glauben möchte (und es aussah).

„Ich hoffe, dass uns 2021 Wertschätzung, Genügsamkeit, Zufriedenheit und Solidarität lehrt“, schrieb ich und muss nun ein wenig lachen, während ich kürzlich in Thüringen saß und eigentlich mehrmals täglich den Kopf schütteln musste. Meine Heimat ist teilweise zu einem Moloch verkommen, das die oben genannten Werte mit Füßen tritt und durch die anteilmäßig große Ignoranz, Arroganz, die Kurzsichtigkeit, Verwirrtheit und all den Hass (und damit nimmt Thüringen natürlich „nur“ ine Stellvertreterrolle für all die Idiotien da draußen ein) täglich mehr und mehr dafür sorgt, dass ich mich fremd fühle. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität ist in den hiesigen Zeiten offensichtlich ein größeres Thema, als das für möglich zu halten war und weil vermutlich kein Mensch meine Prognose für die nächsten drei Jahre hören will, freue ich mich jetzt, gemeinsam mit Euch einen Blick ins Klangbild 2021 zu werfen:

Meine Lieblingsalben 2021

24/7 Diva Heaven – Stress

Wüten, kaum zügelbar und angenehm rotzfrech erzeugt „Stress“ einige spannende Effekte, die viel mehr, als nur zum ungebremsten Mitsingen motivieren. 24/7 Diva Heaven haben die besten Voraussetzungen dem meist eingestaubten Mainstream Punkrock, Grunge und Heavy Fuzz zu zeigen, was es bedeutet wirklich Feuer, aber vor allem auch ordentlich Mut und Substanz unterm Schlagzeug zu haben.

Biffy Clyro – The Myth of The Happily Ever After

Dieses Album fasziniert mich nachhaltig. Alles daran ist für mich magisch und wenn es tatsächlich eine Perfektion in der Kunst gibt, dann ist sie meines Erachtens in all der hier vorherrschenden Unterschiedlichkeit zu finden. Dieses Album spüre ich von der Haut bis in die Magengrube und manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass mein Blut in einem anderen Takt fließt, wenn ich es höre – kennt Ihr dieses Kribbeln? Irre.

Turnstile – Glow On

Mit „Glow On“ verhält es sich ähnlich, wie mit dem aktuellen Biffy Clyro Album: Mir steht weiterhin regelmäßig der Mund offen und ich schaffe es bis heute nicht, alles zu fassen, was dieser musikalische Erguss innehat. Christoph schrieb „Etwas Besseres wird dieses Jahr, in diesem Genre, nicht herauskommen.“ und er soll damit Recht behalten!

Neighborhood Brats – Confines Of Life



„„Confines Of Life“ ist rotzig, schnell, furios, unglaublich vielfältig und einfach nur Megastark!“, sagt Rob und das ist ab jetzt offiziell von mir unterschrieben und als allgemein gültig gestempelt! Mega Band, Mega Album!

Thrice – Horizons/East

„Horizons/East“ hat mir in all seiner Experimentierfreude mehrmals die Schuhe ausgezogen. Wenn Ihr Euch mal aus dieser Welt gefallen fühlt und bisschen was ordnen müsst, ist das genau der richtige Silberling!

The Mighty Mighty Bosstones – When God Was Great

Alles an diesem Album macht einfach unfassbar Spaß und ich habe richtig Lust, das live zu erleben. Mit Dicky Barrett durfte ich außerdem über die neue Musik der Bosstones plaudern.

LÜT – Mersmak

Ein Album, das man allein mit der Zeile „Anwärter auf die Big Five des Jahres“ gut und ehrenhaft beschrieben hätte. Aber auch ein Album, das unfassbar neugierig auf nahezu alles macht, was damit im Zusammenhang steht. LÜT sichern sich einen mehr als verdienten Platz im internationalen Musikzirkus und werden, davon kann man ausgehen, den Scandirock auch in den kommenden Jahren alle Ehre machen – allein, weil alles an dieser Band zu 100% authentisch und liebenswert erscheint.

Weezer – Van Weezer

Die Platte lässt sich nur schwer in die Diskografie der Band einordnen: Sie bleiben sich treu, aber es ist allemal eine gelungene Überraschung – im positiven Sinne. Auf jeden Fall ist „Van Weezer“ immer wieder in meinem Ohr aufgetaucht und hat mich in den unmöglichsten Situationen laut mitsingen lassen – Singverbot hin oder her.

Amyl & The Sniffers – Comfort To Me

Ich war noch ordentlich euphorisch, als Amyl Taylor ein neues Album voller Rotz-Hymnen vorlegte und nahm dankbar an. Ich liebe die Frau, die ganze Band. Top Empfehlung für den klassischen „Schnauze-voll-Tag“: Mit Amyl aukotzen ist das Größte! Garage-Punk so roh, wie sonst nur ein Schienbein nach dem Skaten sein kann.

Dead Poet Society – -!-

Dead Poet Society veröffentlichen mit „The Exclamation Album“ ihr Debütalbum und das ist mehr, als nur schnöde außergewöhnlich. Nicht nur, dass die Band, die sich bereits 2013 auf dem College in Boston zusammenfand, mit einer siebensaitigen Gitarre um die Ecke kommt und jegliche Konventionen ignoriert, sie bricht auch immer genau in das Extrem aus, mit dem man in keiner Weise rechnet. So findet man sich schnell in einem wüsten Knust von allem wieder und beginnt die letzte verbleibende Fähigkeit dieser Emotionen zu nutzen und das zu sortieren, was für diesen einen kurzen Moment durchgewirbelt wurde. Man fühlt!

AFI – Bodies

„Bodies“ habe ich besonders oft beim Autofahren gehört. Gern zum Feierabend, das scheint mich sehr entspannt zu haben. Starkes „back to the roots and 80s“ Album. I Like.

Meine Lieblingsshows 2021

Wenn ich an den Sommer denke, sehe ich ein Meer aus endorphingeschwängerten Glühwürmchen vor mir, die sich im Ringelrein tanzend in den Flügeln liegen. Das war so schön, dass ich heute kaum noch glauben kann, was wir in dieser kurzen Zeit, die nach Sonnencreme und Schweiß duftete, haben durften.

Joey Cape, KommRaus Hannover

Joey hat sich mit seiner (nicht so ganz zuverlässigen) Klampfe in der Hand auf den Weg nach Hannover gemacht und uns einen Abend geschenkt, der ganz klar unter der Überschrift „Freundschaft“ zu verorten ist.

Joey Cape live in Hannover

Wiebusch, Bosse, Uhlmann, Gilde Parkbühne Hannover

Auch an diesem epischen Abend blieb das Thema Freundschaft keinesfalls auf der Strecke und wahrscheinlich wird sich das durch alle folgenden Konzerte ziehen, denn am Ende ist es nicht nur die Livemusik, die so sehr fehlt. Es sind die Begegnungen, die Umarmungen, die Mimik, die Gestik, die krasse Grafik, die ganz allein das soziale Leben kann. Was für ein Spaß und großes Glück diesen Abend erlebt, aber auch fotografiert zu haben.

Wiebusch, Bosse, Uhlmann live in Hannover

Jared Hart live im Béi Chéz Heinz in Hannover

Auch bei Jared Hart kamen Menschen zusammen, die ich und die vermutlich auch sich mindestens eine Pandemie lang nicht gesehen haben. Jareds Stimme und seine teils melancholischen Texte unterstreichen das im Meer der tausend Lichter des Heinzhofes nachdrücklich.

Jared Hart live im Béi Chéz Heinz in Hannover

Shoreline, The Deadnotes und I Saw Daylight live in Hannover

Das Freunde, war wild und weinhaltig – alles andere ist niedergeschrieben oder Geschichte.

Shoreline, The Deadnotes und I Saw Daylight live in Hannover

Campino Lesetour „Hope Street: Wie ich einmal englischer Meister wurde“, Gilde Parkbühne Hannover

Ein besonderer Moment in diesem Jahr: Die Toten Hosen begleiten mich schon mein ganzes Leben und auch, wenn da mittlerweile mehr (ich formuliere es mal milde) Stadionrock, als alles andere zu hören ist, bewegen diese Musiker etwas in mir. Campino ist mit seinem neuesten Buch unterwegs und hält an meinem Geburtstag in Hannover – das nehme ich dankbar an. Nach einem heiteren Nachmittag schnappt mich Hanna, Herzensmensch und Partnerin in crime und wir checken ein. Ich steh auf Fußball, Pathos und Musik und das allein hätte für einen sehr runden Abschluss eines großartigen Geburtstags gereicht. Nachdem sich die Dunkelheit über Hannover legte, begann mein Kopf sich zu erinnern und ich musste schmunzeln, als ich daran dachte, dass meine Mutter immer stolz wie Bolle allen erzählte, dass ihr Kind die Toten Hosen fotografiert habe. Kurze Zeit später wurde ich in dieser wunderschönen Kulisse durch den Song „Steh Auf, Wenn Du Am Boden Bist“ aus der Erinnerung geholt – der Song, denn mir meine Mutter vor ihrem Tod mit auf den Weg gab. Kein Geburtstag dieser Welt hätte perfekter enden können und ich bin sehr dankbar, dass ich dabei sein durfte.

Worauf ich mich 2022 am meisten freue

Menschen, Umarmungen, Reisen, immer noch Bad Religion und Co. in Barcelona, Menschen, die sich impfen lassen und ein kleines Wunder. Ich möchte mehr sein und weniger rennen, denn ich habe das Gefühl, dass im gefühlten Stillstand die Zeit besonders schnell rennt. Das schmeckt mir nicht. Ich möchte mehr schreiben und mich über all den Weltschmerz auslassen, den ich fühle, wie ich auch Lösungen suchen möchte, mit denen wir vielleicht ein klitzekleines bisschen besser durch diesen ganze Wust aus Leben kommen. Außerdem werde ich mir endlich wieder ein Klavier zulegen – alles, was zusätzlich kommt, wird mich in pure Euphorie versetzen.